Alphawolf
Flaum, der langsam zu Fell wurde. Die Haare, die durch ihre Haut stießen, schmerzten wie Nadelstiche.
Es knackte und ächzte, aber ihre Knochen brachen nicht und ihre Haut blieb unversehrt. Sie veränderte sich lediglich, weil sie eine Art Wirt in sich trug, der sich bemerkbar machte. Ihr Stöhnen wurde zu Winseln, ihre Aufschreie zu Wolfsgeheul.
«Die Wölfin will dir nicht wehtun, sie möchte nur raus», erklärte Claw und massierte ihre empfindlichste Stelle, um sie zu entspannen. «Wehr dich nicht gegen sie. Sieh sie als Verbündete, als Freundin.»
Obwohl Tala kaum klar denken konnte, wurde ihr bewusst, dass die Veränderung, die in ihr vorging, auch einen Vorteil hatte: Sie konnte mit Claw zusammen sein. Seine Andersartigkeit hielt sie nicht mehr davon ab, ein Paar zu werden.
Ein Knoten löste sich in ihrer Brust und die Wandlung schritt schneller und schmerzfreier voran. Sie bemühte sich, das Tier in sich zu akzeptieren. Es war nun ein Teil von ihr, das würde sie durch nichts ändern können. Sie musste es nur für eine kurze Zeit herauslassen, mit ihm Gassi gehen.
Hysterisch kicherte sie.
Als dann alles vorbei war, klebte ihr Fell an ihrem schweißgebadeten Körper. Sie schüttelte sich, als wäre sie schon immer ein Wolf gewesen. Als eine Wolfsschnauze sie anstieß, bemerkte sie erst, dass sie nicht das einzige Tier in der Schwitzhütte war. Anstatt sich zurück in seine menschliche Gestalt zu verwandeln, hatte Claw seinem Timberwolf nachgegeben, weil er ihn lange genug gequält hatte – und um mit Tala zu rennen.
Gemeinsam liefen sie aus der Hütte. Sie überquerten die Lichtung und sprinteten um die Wette durch den Wald. Das Rudel gesellte sich zu ihnen. Sie begrüßten Tala und zeigten ihr, wie wunderschön es war, ein Wolf zu sein. Die Werwölfe neckten sie, sie stupsten sie sanft an und leckten immer wieder ihre Schnauze.
Pures Adrenalin rauschte durch Talas Adern. Sie spürte weder die Kälte des Schnees noch den eisigen Wind, der durch den Wood-Buffalo-Park wehte. Sogar drei Otter, die über den zugefrorenen Peace River liefen, um eine offene Stelle zu finden und dort zu fischen, konnte sie sehen, obwohl sie weit entfernt auf einem Plateau stand. Sie roch die Bisonherde, die hinter dem Wald auf einer Lichtung mit ihren massigen Köpfen den Schnee beiseiteschob, um das mickrige Gras darunter zu fressen, ohne die gewaltigen Tiere sehen zu können.
Die Ernüchterung folgte in Anchorage. Sie war gezwungen, ihre Stelle bei Wild Protection zu kündigen. Mit schlechtem Gewissen log sie Walter an, aber es ging nicht anders, denn die Tiere, die Tala eigentlich retten wollte, witterten ihren Wolf und scheuten entweder zurück oder griffen sie an.
Sie zog bei Claw ein. Ein bedrohliches Knurren kribbelte in ihrer Kehle, als sie Fairstream den Haustürschlüssel auf den Tisch knallte, aber sie konnte es gerade noch zurückhalten.
Claw lehrte sie alles, was ein Werwolf wissen musste – er wurde ihr Lehrer und ihr Gefährte – auch wie man das Geheimnis der Gestaltwandler wahrte. Einzig Onawa vertraute sie sich an, weil es ihr eine Herzensangelegenheit war. Schon immer war ihre Granny ihr Anker zu ihren indianischen Wurzeln gewesen, nun war sie noch mehr: der Anker zu Talas menschlicher Seite. Gemeinsam mit Chankoowashtay – und Papewas, den die Athabascan wieder in ihren Stamm aufgenommen hatten – führte sie das Gespräch mit ihrer Granny. Er sowie die Schamanen der anderen Indianerstämme hatten dem Rudel ihr Wort gegeben, dass sie über alles, was sie gesehen und gehört hatten, absolutes Stillschweigen bewahren würden.
Die Indianer wurden nicht nur zu Mitwissern, sondern sogar zu Verbündeten der Lykanthropen.
Heimlich betrachtete sich Tala in den ersten Wochen im Spiegel. Ihr Fell war leuchtend weiß, besonders dicht und langhaarig. Sie war ein Polarwolf, wie er in der kanadischen Arktis vorkam, ein wunderschönes Exemplar, wie sie fand, doch das behielt sie selbstverständlich für sich.
Da Tala die Neue im Rudel war, betrachteten ihre Gefährten sie eigentlich als das schwächste Mitglied, als Omega-Wölfin, da sie erst noch darum kämpfen musste, in der Hierarchie aufzusteigen. Doch einen Wolf hatte sie bereits besiegt, ohne gegen ihn antreten zu müssen:
Claw, der Alphawolf, lag ihr ohnehin zu Füßen.
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