Alphawolf
Talas Herz. Sie wagte es, einmal über sein Fell zu streicheln. Als ihre Hand über sein Bein glitt, winselte er. Aber er knurrte nicht und versuchte nicht, sie zu beißen oder aufzustehen. Kraftlos legte er seinen Kopf wieder ab.
Walt ließ sich aus dem Fenster herab. Er kam zu ihr und stellte sich neben sie. «Willst du ihn mitnehmen?»
«Sein Hinterlauf ist verstaucht, vielleicht sogar gebrochen, aber ich denke eher nicht, denn ich spüre keine herausstehenden Knochen», antwortete Tala und betrachtete den kleinen Tierkörper voller Mitgefühl. «Verletzungen kann ich zum Glück nicht entdecken.»
«Ich hole eine Decke aus dem Jeep.» Schon stapfte Walt von dannen.
Er kehrte mit einer Hundedecke zurück. Behutsam legte sie den Rotwolf auf die Decke in Walters Armen und wischte dem Wolf mit einem Zipfel die Schneeflocken aus dem Fell.
«Hab keine Angst», flüsterte sie ihm zu. «Ich bringe dich zur Tierklinik. Dort werden sie sich um dich kümmern.»
Walter trug den kleinen Wolf zum Jeep und bettete ihn auf den Rücksitz. «Warte kurz. Ich muss Jim und dem Krankenhauspersonal Entwarnung geben – und abrechnen.»
Er zwinkerte ihr zu und lief zum Haupteingang der Klinik. Durch die Schneeverwehungen war er schon nicht mehr zu sehen, noch bevor er in das Gebäude eintauchte.
Tala packte die Neugier. Hatte sie vorhin tatsächlich einen Menschen gesehen? Oder hatte ihre Wahrnehmung ihr einen Streich gespielt? Durch das Adrenalin in ihren Adern spürte sie die Kälte nicht einmal mehr.
Sie überquerte den Parkplatz und suchte die Spuren, bevor der Neuschnee sie bedeckte. Tatsächlich fand sie die Fährte, aber sie sah nur Abdrücke von Wolfspfoten. Also hatte sie sich doch getäuscht. Da war kein Mensch gewesen, der einen Wolfsfellmantel anhatte oder einen Wolf über seiner Schulter trug.
Tala schüttelte den Schnee von ihren langen, hellbraunen Haaren und konzentrierte sich darauf, sich die Szene noch einmal vor Augen zu führen. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte, aber die Tatsachen sprachen dagegen.
Sie holte die Taschenlampe heraus und suchte mit dem Lichtkegel die Schneedecke ab. Es gab nur Wolfsspuren. Das war Fakt. Doch eine der Spuren war größer. Nein, sie war nicht nur größer, sondern doppelt so groß wie die anderen, und die Krallen der Riesenpfoten hatten sich viel tiefer in den Schnee gedrückt. Es müssen monströse Krallen gewesen sein.
Der Schnee in den Abdrücken war leicht rosa. Blut musste an den Pfoten geklebt haben, Blut, das mit jedem Schritt vom Schnee abgewaschen worden war, denn das Rosa wurde immer blasser, bis die Pfotenabdrücke nur noch weiß waren. Das Tier selbst hatte folglich nicht geblutet, zumindest nicht so stark, dass das Blut heruntergelaufen oder getropft war.
Was muss das für ein Tier sein, dass sich gegen ein Rudel aggressiver Wölfe durchsetzen konnte?
Auf einmal fröstelte Tala stark. Sie zog den Reißverschluss ihres Parkas bis oben hin zu und rannte zum Jeep zurück, als wäre der Teufel hinter ihr her. Hier ging etwas äußerst Eigenartiges vor sich.
Sie entschied, im Wagen auf Walter zu warten – mit der Waffe im Anschlag.
Kapitel 3
Tala öffnete ihre Augen, obwohl es stockdunkel in ihrem Schlafzimmer war. Es half ihr nicht, besser zu hören, aber sie war dadurch wacher. Angestrengt lauschte sie. Hatte sie sich das Geräusch im Erdgeschoss nur eingebildet? Unmöglich, sie war schließlich dadurch wach geworden. Oder hatte sie einen Alptraum gehabt? Nach dem kuriosen Einsatz im Alaska Native Medical Center wäre das kein Wunder gewesen.
Noch lange hatte sie über das, was sie erlebt hatte, nachgedacht, aber sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Wäre Tala nur auf eine Ungereimtheit gestoßen, hätte sie zwar den Kopf geschüttelt, darüber hinaus hätte es sie nicht weiter beschäftigt. Doch das Rudel, das sie aus dem Krankenhaus vertrieben hatten, jagte ihr sogar noch in ihrer Erinnerung Schauer über den Leib.
Da war es wieder. Es hörte sich anᅠ... wie Scharren. War da nicht auch ein Schnaufen gewesen?
Tala setzte sich im Bett hin. Der Rotwolf. Das Beruhigungsmittel hatte vermutlich seine Wirkung verloren. Sie hatte ihn nach ihrem Einsatz in die Tierklinik gebracht. Dort wartete nur Ernüchterung auf sie. Die Ärzte stellten zwar nur eine Verstauchung beider Hinterläufe fest, sagten aber auch, dass sie nichts für den kleinen Wolf tun konnten. Außer ihn in einen Käfig zu sperren und wieder auszusetzen, sobald er sich erholt
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