Alptraum-Sommer
Stimmen kamen. Es mußten sich noch andere Wesen nahe der Prinzessin aufhalten, doch er konnte sie nicht entdecken.
»Nein, ich nehme ihn nicht.«
»Bitte, für uns…«
»Was soll ich…?«
»Man kann ihn richtig gern haben.«
»Das habe ich auch!«
»Dann hol ihn. Schau nur, wie er dich ansieht. Er hat sich in dich verliebt. Du mußt ihn mit zu uns nehmen, zu uns Elfen und Feen, wir werden auf ihn achtgeben…«
»Meint ihr?«
»Ja, ja, ja…« Die Stimmen klangen im Chor, und auch Kelly spürte in der Erinnerung, wie ihn das Gefühl einer wahnsinnigen Sehnsucht überkam, einer Liebe zu dieser Prinzessin, von der er immer wieder geträumt hatte…
»Später, nicht jetzt!«
Eine dumpfe Stimme unterbrach den Zauber des Augenblicks. »Ihr werdet ihn später nehmen.«
»Wann denn?«
»Irgendwann…«
Aus dem Hintergrund löste sich eine Gestalt, die Kelly in der Erinnerung nur als Schatten wahrnahm. Sie war nicht konkret, sie wirkte wie ein Stück Natur, aber sie konnte reden, und er bekam ihre Pläne mit. »Er ist noch eine Alraune, aber ich werde dafür sorgen, daß er sich bald in einen Menschen verwandelt. Das kann hundert und mehr Jahre dauern. Ich allein bestimme den Zeitpunkt.«
»Und warum du?« fragte die Gestalt.
»Weil ich Mandragoro bin und genau weiß, daß seine Zeit erst später kommen wird, wenn die Menschen ihre Vernunft verloren haben und dabei sind, die Natur zu vernichten. Dann wird er eingreifen und zu schätzen wissen, wer und was er ist. Dann wird er mir mithelfen, unser Refugium zu verteidigen, und er wird es gelernt haben, sich den Menschen anzupassen, so daß er nicht mehr auffällt.«
Kelly hatte sich dagegen wehren wollen, aufschreien und weglaufen, aber die Prinzessin gehorchte.
Sie zog sich zurück.
Ihr Bild verschwand, es war für ihn nur mehr eine Erinnerung. Er blinzelte mit den Augen, denn jetzt schaute er wieder in das grelle Licht der Sonne.
Kelly war aus seinen Träumen erwacht. Die Vergangenheit existierte nur noch in der Erinnerung, und er dachte wieder daran, was er in der Zwischenzeit, als er zu einem Menschen geworden war, alles gelernt hatte.
Die Kraft der Alraune steckte jedoch noch in ihm.
Es war ihm nicht mehr möglich, die Erinnerungen zurückzuholen, und auch der Nebel hatte sich bei ihm gelichtet, denn nun mußte er sich wieder auf die Geräusche der realen Welt konzentrieren.
Er hörte die Bewegungen der Riesenspinne, deren Kopf plötzlich bei ihm auftauchte.
Er schaute ihn an.
Er sah ein gräßliches Maul, und trotzdem wollte er wissen, ob sie die Prinzessin war.
Nein, das war sie nicht. Das konnte sie nicht sein. Sie war ein Feind, er spürte es deutlich. Etwas geschah mit seinem Körper. Das Blut hatte sich verändert. Er kam sich steifer vor als sonst, und als er mühsam einen Arm hob, um nach seinem Gesicht zu tasten, da spürte er wenig später nicht mehr die Glätte einer Kinderhaut.
Spalten, Runzeln, dazwischen das harte, rauhe Holz. Er hatte sich verwandelt, er war zurückgekehrt in den Zustand, in dem er einmal geboren war.
Kelly war wieder zu einer Alraune geworden. Zu einem Wesen aus dem Lande Aibon.
Vor ihm hockte die Spinne.
Ihr Maul stand weit offen. Tief in ihrem Schlund quoll ein grüngrauer Schleim, aus dem diese Spinnenabart ihr Netz wob.
Sie würde ihn mitnehmen, doch der Junge wußte nicht, wer sie überhaupt war und was er ihr getan hatte.
Kelly pendelte zwischen beiden Zuständen hin und her. Er wußte nicht mehr, ob er sich als Mensch oder als eine Alraune fühlen sollte. Mal war er das, mal das andere.
Zerbrochen waren seine Träume von einer wunderschönen Prinzessin mit nachtschwarzen Haaren. Der Traum würde sich niemals in eine Realität verwandeln, auch wenn es eine starke Kraft geschafft hatte, Zeiten, Gestalten und Welten miteinander zu mischen, so daß sich alles auf ein geheimnisvolles Waldstück konzentrieren konnte, das nicht mehr für ihn als eine Erinnerung an das Land Aibon bleiben würde, an seine wunderbare Geburtsstätte.
Aber er hatte Feinde. Die Spinne gehörte dazu.
Und Kelly spürte genau, wie er sich zurückverwandelte. Er würde kein Mensch mehr bleiben. Die Menschen zerfielen, wenn sie tot und begraben waren, irgendwann zu Staub, er aber würde wieder zu einer Alraune werden, und damit war die einmalige Doppelexistenz aufgehoben. Die Spinne war da, um ihn zu holen. Ihr gehorchten auch die kleinen Alraunen in diesem Wald. Es war alles anders geworden, es war den Feinden gelungen,
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