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Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman

Titel: Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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Zimmer im oberen Stockwerk. Vier Personen speisten
hier an diesem Abend. Am wenigsten sprach die Hausherrin selbst, Jacqueline Le Gall, die nun
auf der Insel zu Gast war.
    Ihr Schmuck und der rosafarbene Lippenstift verbreiteten stärkeren Glanz als
gewöhnlich. Beides sollte natürlich die Gäste beeindrucken: Renée und Paul Charon, alte
Freunde, eine Hausfrau und ein Lehrer im Ruhestand. Paul war mittlerweile neunundsiebzig Jahre
alt, ein kleiner Mann, dessen Augen unter den buschigen Augenbrauen strahlten und dessen
lichtes Haar den Eindruck einer zerzausten Mähne erwecken sollte. Er kannte Marcel, den
Ehemann von Jacqueline, seit über dreißig Jahren. Paul führte mit Renée, die einundachtzig
Jahre alt war (rotbraunes Haar, Wasserwelle, hohe Stimme und stets ein Lächeln auf den
Lippen), eine harmonische Ehe. Das Paar hatte vier Kinder. Den Gesprächen war zu entnehmen,
dass sich sowohl die Männer als auch die Frauen regelmäßig trafen.
    Doch Jacqueline, die eine sorgfältig gebügelte Seidenbluse mit Spitzen trug, wirkte
verzagt, als sie die Gäste empfing, als handele es sich um Fremde von Rang und nicht um
Freunde. Zephyr fand sie in der Küche vor, wo sie mit gequälter Miene inmitten eines Stapels
feiner Porzellanteller und den Pappschachteln eines Partyservices
stand. Später saß sie dann im Esszimmer, versteckt hinter einem verhaltenen Lächeln im

Schatten von Marcel. (Dieser große, herrische Mann hätte jeden in den Schatten gestellt. Sein
Haar war soldatisch kurz geschnitten, und er besaß trotz seiner sechsundsiebzig Jahre noch
eine sportliche Statur.) Kurzum, Zephyr erzählte uns, dass er bereits an diesem Abend die
geheimnisvolle Aura bemerkte, die Jacqueline umgab. Doch Zephyr ist ein unverbesserlicher
Aufschneider, und ich bezweifle, dass er schon an jenem Abend herausfand, was wir viel später
erfuhren. Zu dieser abendlichen Stunde ähnelte Jacqueline sicherlich noch den meisten
gutbürgerlichen Ehegattinnen, die eine Ehe, die zwar Annehmlichkeiten, aber keine Liebe
bietet, in einen Vogel mit gestutzten Flügeln verwandelt hatten.
    Kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Es war spät geworden, und Zephyr langweilte sich
an diesem schönen Abend allmählich im Haus. Vielleicht hatte man ihm einen falschen Tipp
gegeben, und das Ereignis fand gar nicht statt. Doch plötzlich entschuldigte Renée sich und
stand vom Tisch auf. Sie ging in die Diele und tastete unter dem Garderobenständer über den
Boden. Schließlich zog sie eine Supermarkt-Plastiktüte hervor, und wie es aussah, sollte jetzt
alles ganz schnell gehen. Paul, der mit den anderen im Wohnzimmer saß, erhob sich
ebenfalls. Er reckte den Kopf nach Renée und löschte das Licht. »Was soll denn das?«, rief
Marcel.
    Renées von Kerzen erleuchtetes Gesicht tauchte aus der Dunkelheit der Diele auf. Paul trat
zu ihr, und gemeinsam gratulierten sie Jacqueline zum Geburtstag:»Herzlichen
Glückwunsch zu deinem Ehrentag, liebe Jacqueline!«
    Ehe der Kuchen auf dem Tisch stand, war Marcel schon aufgestanden, um die Deckenlampe wieder einzuschalten.
    »Wir müssen doch etwas sehen können, wenn wir die Kerzen ausblasen.«
    Jacqueline war errötet und wusste nicht, wohin mit ihrer Serviette.
    »Oh, Renée, du hättest dir doch nicht so viel Umstände zu machen brauchen ... Das wäre
wirklich nicht nötig gewesen. Ich habe einen Obstsalat vorbereitet.«
    Auf diesen günstigen Augenblick hatte Zephyr gewartet, den Augenblick, da die Kerzen
ausgeblasen wurden. Jacqueline wünschte sich nichts, denn mit dreiundsiebzig Jahren sollte man
besser vorgeben, an dergleichen nicht mehr zu glauben. Ihr Atem strich beinahe behutsam über
die Flammen hinweg, als wäre ihm daran gelegen, nichts zu verändern.
    Doch dann pusteten Renée, Paul und Marcel so kräftig, wie sie konnten, worauf die Kerzen
erloschen und die drei »ah« riefen. Zephyr, der schrecklich aufgeregt war, zog einen kurzen
Moment übermütig seine Runden durch den Raum und hielt sich dann seufzend in der Nähe des
Schokoladenkuchens auf, nachdem er den Duft von Wachs auf den Wasserwellfrisuren der Damen
verteilt hatte. Zephyr konnte von Geburtstagen niemals genug bekommen. Und er ließ keine
Gelegenheit aus, den Clown zu spielen.
    Paul und Renée hatten alles mitgebracht, sogar Champagner und ein kleines Geschenk.
    »Also wirklich, ihr seid ja verrückt«, sagte Jacqueline. Sie schaute auf
das Geschenkpapier, auf dem der goldene Aufkleber einer Buchhandlung prangte, und packte

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