Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Philémon oder Dylan. Oder Cerise.
»Ich wollte auch Kinder haben. Wissen Sie, als ich siebzehn war ...«
Doch nun beendete Jacqueline das imaginäre Gespräch. Es gab Dinge, für die ein Zug wirklich nicht der passende Ort war, um darüber zu sprechen. Und vor allem nicht über jene Dinge aus früheren Zeiten, die die jungen Leute von heute nicht mehr verstanden. So eine lange Zeit war es aber auch wieder nicht, kaum sechsundfünfzig Jahre. Doch das war das Geheimnis der Alten, dass es ihnen so vorkam, als wäre es gestern gewesen, obwohl sechsundfünfzig Jahre verstrichen waren.
»Nun, es ist nicht wichtig. Im Leben eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er bereut, nicht wahr?«, fuhr Jacqueline fort.
»Und wohin fahren Sie jetzt?«, würde die junge Frau sie fragen.
»Ach, meine Liebe, ich weiß es nicht. Gestern Morgen bin ich am Bahnhof von Saint-Brieuc in den ersten Zug gestiegen. Und dann in einen anderen Zug und wieder in einen anderen. Ich finde das lustig, wissen Sie. Die Nacht habe ich in einem Hotel in Montgeon verbracht. Es war niemals mein Traum, nach Montgeon zu fahren. Ich habe immer davon geträumt, nach Venedig, New York oder in die Sahara zu fahren – sogar allein. Das hätte mir keine Angst gemacht! Und plötzlich stehe ich mit meinen Koffern im Hôtel du Centre in Montgeon. Das ist doch wirklich komisch.«
Während sie eine Träne trocknete, die ihr über die Wange rollte, begriff sie, dass schon eine Weile vergangen und ihre junge Sitznachbarin noch immer nicht aus demBistro zurückgekehrt war. Sie hatte ihre Handtasche mitgenommen, doch eine Plastiktüte lag noch dort. Ebenso wie die Sporttasche in der Gepäckablage und die Zeitschrift »Elle«, die zwischen der Wand und dem hochgeklappten Tisch klemmte. Jacqueline hoffte, dass die junge Frau nicht begonnen hatte, sich zu betrinken. Sie schaute auf ihre kleine goldene Armbanduhr. Bis Marseille dauerte es noch fast eine Stunde. Sie würde bestimmt gleich zurückkommen.
»Sie haben keine Freunde oder Verwandten, zu denen Sie fahren können? Sie können doch nicht ganz allein bleiben«, setzte die Fremde das Gespräch fort.
»In meinem Adressbuch stehen so viele Namen, dass man sich falsche Hoffnungen machen könnte ... Aber wenn man genauer hinschaut, existiert von diesen Freunden keiner mehr. Wissen Sie, in meinem Alter sind die Angehörigen größtenteils verstorben ... Ich bin dreiundsiebzig ...«
»Danach sehen Sie aber nicht aus. Es ist noch nicht zu spät, um ein neues Leben zu beginnen.«
Jacqueline lächelte über die Naivität der jungen Frau.
»Es gäbe da schon jemanden«, sagte Jacqueline, die auf den Horizont starrte, der sich unaufhörlich veränderte. »Jemanden, der mich vielleicht längst vergessen hat ... eine Cousine ... Wir haben unsere Jugend miteinander verbracht ... Ich habe den Kontakt zu ihr abgebrochen, als ich geheiratet habe, weil ... weil ... Ach, diese alten Geschichten ... Aber ich habe ihr Leben ein wenig aus der Ferneverfolgt und immer wieder an sie gedacht ... Sie führte ein ziemlich ungewöhnliches Leben ... Sie war nämlich mit einem berühmten Maler verheiratet. Mit Aleksander Verbowitz. Kennen Sie ihn?«
»Ihre Cousine war mit Aleksander Verbowitz verheiratet?«
»Ja ... obwohl ... Ich persönlich habe ihren Mann niemals kennengelernt ... Sie hat selbst viele Jahre als Bildhauerin gearbeitet und überall ausgestellt ... Sie ist sehr talentiert ... Wissen Sie, ich habe all die Jahre immer an sie gedacht, weil ... Oh, Sie finden das vielleicht kindisch, aber ... sie besaß die Gabe, mich dazu zu ermuntern, ganz ich selbst zu sein. Übrigens eine erstaunliche Gabe ... Sie wohnte viele Jahre in ihrem Haus auf der Ile d’Yeu ...«
Jacqueline lächelte verhalten und verstummte. Die Ile d’Yeu war so weit von dieser Strecke entfernt, und dennoch konnte sie die Insel beinahe auf der Fensterscheibe sehen.
»Meinen Sie, das geht, jemanden einfach besuchen, obwohl inzwischen fünfzig Jahre vergangen sind?«, fuhr Jacqueline plötzlich fort.
»Ich glaube, das hängt davon ab, was Sie erwarten«, erwiderte die junge Frau.
»Zu viel mit Sicherheit ... ein wenig Trost ... Nostalgie, Erinnerungen an die Kindheit, ich weiß nicht ... Das ist egoistisch, nicht wahr?«
»Versuchen Sie es. Was haben Sie zu verlieren? Es gibt Leute, die trifft man nach fünfzig Jahren wieder, und es ist so, als hätte man sie gestern erst gesehen.«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch nochnicht einmal Ihr halbes
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