Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Jacqueline riskierte einen Blick nach rechts und sah, dass die junge Frau hemmungslos weinte, als sie dem Kontrolleur schniefend ihr Ticket gab.
»Vielen Dank, meine Damen«, sagte der Kontrolleur und ging mit betretener Miene davon. Dann kehrte er noch einmal zurück und sagte leise: »Ich ... hm ... In Wagen 14 gibt es Erfrischungen, falls Sie ... hm ... Schönen Tag noch.«
Die junge Frau drehte sich zu ihrer Sitznachbarin um, worauf beide lächeln mussten.
»Es gibt Tage ... verdammt ...«, begann die junge Frau.
»Ja, es gibt Tage, die sind nicht der Hit«, erwiderte Jacqueline und errötete.
»Ja, Sie haben recht, dieser Tag ist wirklich nicht der Hit«, sagte die junge Frau und putzte sich die Nase. »Ich glaube, ich gehe mal ins Bistro. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«
»Nein danke, das ist nett von Ihnen, aber ich brauche nichts.«
Die junge Frau ging davon und ließ Jacqueline allein mit den Vorhängen und der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft zurück.
»Nicht der Hit.« Wie ungeschickt und dumm von ihr, so etwas zu sagen. Nein, das war keine glückliche Formulierung. Warum diese Redensart, die sie sonst nie benutzte? Sie wirkte mit Sicherheit unbeholfen und alt, und sie ärgerte sich, sich so blamiert zu haben. Jacqueline war auch ängstlich, denn in fünf Minuten, wenn ihre Sitznachbarin zurückkehrte, würde diese bestimmt ein Gespräch mit ihr beginnen. Die junge Frau hatte geweint. Sie musste Worte finden, um sie zu trösten. Wozu war es gut, schon so lange gelebt zu haben, wenn man nicht die richtigen Worte des Trostes fand?
»Ich weiß nicht, warum Sie geweint haben, aber ich bin sicher, es kommt alles wieder in Ordnung.«
Nein. Nein, das würde sie nicht sagen. Dann konnte sie auch gleich sagen: »Weinen Sie nicht. Das ist lächerlich.«
Sie würde sagen: »Es gibt Tage ... es gibt Tage, die entscheiden darüber, ob sich das Leben zum Guten oder zum Schlechten wendet. Heute erscheinen einem solche Tage entsetzlich, aber morgen oder wenn man Bilanz zieht, sagt man vielleicht, dass es eine gute Entscheidung oder eine göttliche Fügung war. Ich weiß nicht, wovor Sie davonlaufen, Madame, ich weiß nicht, was Sie verlassen haben oder was Sie verlieren. Bei mir ist es meine Ehe. Sie ist zerbrochen, aber sie war im Grunde seit fünfzig Jahren zerrüttet.«
»Ihre Ehe ist seit fünfzig Jahren zerrüttet, und Sie gehen erst jetzt?«, würde die junge Frau antworten. »Warum sind Sie nicht eher gegangen, wenn Sie so unglücklich waren?«
Jacqueline suchte nach den richtigen Worten.
»Da fällt mir eine Geschichte ein«, würde sie schließlich sagen. »Ist es Ihnen schon einmal passiert, auf einer Hochzeit einzuschlafen? Vielleicht zu viel Champagner beim Empfang? Und dann viel später aufzuwachen, zu spät, in dem Augenblick, da alles vorbei ist ... Und am nächsten Tag sagt man Ihnen, dass es eine so fröhliche Hochzeitsfeier war, so lustig, so schön, die Reden, dasgute Essen, das Tanzen, der Kuchen, die Männer ... Aber alles, was bleibt, sind schmutzige Gläser, Blumen, die bereits welken, und das Neonlicht, in dem alles ganz prosaisch aussieht. Ist Ihnen das schon einmal passiert?«
Die junge Dame würde die Frage verneinen, denn so etwas kam selten vor. Doch einer Cousine von Marcel war es vor langer Zeit bei einer Hochzeitsfeier passiert. Jacqueline sah noch heute die Enttäuschung in den Augen der Neunzehnjährigen, als sie nach Hause zurückgekehrt waren, um sich schlafen zu legen. Ihr billiges Kleid war zerknittert und ihr Haar vom Schlaf zerzaust. Es war zwei Uhr in der Nacht, und sie bat um ihren ersten Tanz, doch es waren nur noch diejenigen da, die zu viel getrunken hatten. Also zwang sie sich, fröhlich zu sein, und das zerriss Jacqueline das Herz.
»Verstehen Sie, das ist so ähnlich wie bei mir. Ich bin mit siebzehn Jahren eingeschlummert und erst mit dreiundsiebzig wieder aufgewacht. Man sagte mir, es sei ein schönes Fest gewesen, aber ich habe alles verpasst. So ist es nun mal. Ich bin nicht früher gegangen, weil ich geschlafen habe, glaube ich.«
»Und eines schönen Morgens sind Sie aufgewacht?«
»Es war an einem Abend, und er war nicht schön.«
Als Jacqueline den fragenden Blick der jungen Frau spürte, fuhr sie fort. »Wie alt sind Sie? Sie sind noch keine fünfunddreißig ... Haben Sie Kinder?«
Die junge Frau würde antworten, ja, sie habe drei Kinder. Sie würde ihr das Alter und die Namen der Kinder nennen, die gerade modern waren, wie zum Beispiel
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