Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
Leben gelebt«, sagte Jacqueline freundlich. »Es ist schön, mit Ihnen zu plaudern ... Wie heißen Sie?«
»Verzeihung, Madame, ich wollte nur meine Sachen holen ...«
Jacqueline zuckte zusammen. Ihre junge Sitznachbarin war aus dem Bordbistro zurückgekehrt. Ihre Stimme klang viel ernster als in Jacquelines Erinnerung.
»Wie bitte?«, sagte Jacqueline.
»Meine Tasche, vor Ihren Füßen ... Im Wagen 13 ist Platz. Dann können Sie Ihr Gepäck jetzt auf den Sitz stellen. Soll ich es herunterholen?«
»Nein danke. Ich komme schon zurecht ...«
»Okay, dann noch eine gute Reise.«
Jacqueline verabschiedete sich ebenfalls, aber die junge Frau hörte es vermutlich gar nicht mehr. Sie nahm am Ende des Wagens einen riesigen Koffer in die Hand und verschwand dann aus ihrem Blickfeld. Jacqueline blieb allein zurück. Sie hätte sich gerne unterhalten, aber es war niemand mehr da.
Die Landschaft draußen zog vorüber. Täler, Bahnhöfe, Dörfer. Und nach und nach trat all das in den Hintergrund, und ein Haus auf der Ile d’Yeu in der Sommersonne tauchte vor Jacquelines geistigem Auge auf. Begrüßungen, Umarmungen, Erinnerungen, die lachend wachgerufen wurden. Dann verdunkelte sich der Himmel, und sie sah Nane als Dreiundzwanzigjährige, schlank, stets schwarz gekleidet, die anmutige Rebellin. Nane in ihrem Elternhaus inder Touraine im Château de Montrie. Ihre hübschen, schmalen Hände, die so kalt waren wie Jacquelines, ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre Zigaretten. Die Sonntage im Winter, als sie sich im Bett aneinanderkuschelten, um sich zu wärmen. Und dann der Tag ihrer Trennung 1953. Nane mit ihrer stolzen, traurigen Miene und der dicken schwarzen Mähne, die ganz zerzaust war, nachdem sie sich verabschiedet hatten. Wie alt war sie jetzt wohl? ... Sie war Jahrgang 1930 und hatte im Dezember Geburtstag, also war sie schon über achtzig. Mein Gott, achtzig Jahre!
Jacqueline nahm aus ihrer Handtasche ein altes Adressbuch mit einem abgegriffenen Ledereinband. X, Y und Z fehlten, aber V war noch da. Kein Verbowitz. Sie spürte Enttäuschung in sich aufsteigen. Dann schlug sie das Adressbuch bei D auf. Dort stand ganz oben in sorgfältiger Handschrift geschrieben:
Nane Darginay de Boislahire Verbowitz
Villa Jolie Fleur
Rue de la Forge
85600 L’Ile d’Yeu
Jacqueline ließ das aufgeschlagene Adressbuch auf den Knien liegen und drehte sich zu den engen Straßen und den mit Graffiti bemalten Häusern um, die Marseille ankündigten.
Zwei Tage, drei Züge, ein Schiff und tausend Kilometer später lehnte Jacqueline ihr Fahrrad an die Mauer neben dem alten Citroën-Kastenwagen, ohne auf den Schmetterling zu achten, der um sie herumflatterte.
4
1. JUNI
Hinter der Schwelle der geöffneten Tür entdeckte Jacqueline ein gebräuntes Gesicht. Eine junge Frau streckte den Kopf aus der Küche am anderen Ende des Eingangs, der noch feucht war. Sie hatte eine schwarze Mähne mit einer roten Strähne darin, und Jacqueline fand, dass sie ein bisschen angriffslustig aussah.
»Ja? Zu wem wollen Sie?«
»Guten Tag«, begrüßte Jacqueline sie. »Verzeihen Sie die Störung. Ich bin eine Freundin von Nane, hm ...«
»Macht es Ihnen etwas aus, ums Haus herum in den Garten zu gehen? Ich habe gerade gewischt«, erwiderte die junge Frau wild mit den Armen gestikulierend. »Ja, gehen Sie hinten herum. Ich komme gleich. Der Garten ist hinter dem Haus.«
Jacqueline ging um das Haus herum und dachte: War Nane verstorben, ohne dass sie es erfahren hatte? Es bestand seit langer Zeit kein Kontakt mehr zu der Familie, aber ein Todesfall, davon erfuhr man doch. Als der Malergestorben war, hatte sie es erfahren. Sie war nicht zu der Beerdigung gegangen. Woran war er noch gleich gestorben? Lebte Nane nun in einem Altenheim? Eines stand jedenfalls fest: Diese etwas unfreundliche junge Frau gehörte nicht zu ihrer Familie und auch nicht zu der des Malers. Sie hatte ihn auf Fotos gesehen. Er war blond gewesen. Sie stammte offensichtlich aus dem Ausland. Marokko? Algerien? Oder war sie eine Zigeunerin? Heutzutage wunderte sie sich über gar nichts mehr.
Hinter dem Haus entdeckte Jacqueline einen wunderschönen Garten mit einer großen Wiese, an dessen Rand ein Gartenhaus stand, mit einem kleinen Gemüsegarten, einem Laubengang und einem Brunnen, aus dem Bambus wuchs. Auf einer hübschen Terrasse standen zahlreiche Pflanzen, ein Kinderfahrrad, Gartengeräte und ein alter schmiedeeiserner Tisch. Alles war wunderbar harmonisch, bis Jacquelines
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