Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
weckte erneut die Erinnerung an jenen Tag vor sechsundfünfzig Jahren. 2423 Nächte.
04.03 UHR
Eine Abfolge lauter Geräusche weckte Jacqueline. Es hörte sich an, als hätte jemand tausend Sachen umgeworfen. Sie richtete sich im Bett auf, rief »Marcel?« und knipste die Nachttischlampe an. Nachdem sie drei Schritte gegangen war, sah sie die Beine ihres Mannes aus dem Badezimmer herausragen. Er lag zwischen Zahnbürsten und dem Inhalt ihres Schminkkoffers auf dem Boden. Das Waschbecken lief bereits über, und das Wasser tropfte auf die Badezimmerfliesen.
3
29. MAI
Marcel hatte sich wohl wieder erholt, denn drei Wochen später fand Skiron, der Nordwestwind, ihn mitten in der Bahnhofshalle von Saint-Brieuc. Seine Augen hefteten sich auf die Namen der Zielbahnhöfe, die in einem Wirrwarr sich drehender Buchstaben auf der schwarzen Tafel entstanden. Die Abfahrtzeiten in Schwarz und Grün und die Menschen, von denen keiner sie war, machten ihn ganz nervös. Jacqueline hatte ihn nämlich verlassen. Als Marcel, der jeden Tag ein paar Runden im kalten Wasser des Ärmelkanals schwamm, nach Hause zurückgekehrt war, sah er, dass die Sachen seiner Frau verschwunden waren. In dem Haus herrschte plötzlich eine entsetzliche Leere, obwohl die Möbel noch da waren. Auch der Wagen stand in der Garage, also musste sie wohl heute Morgen den Zug genommen haben. Und jetzt klammerte Marcel sich mit seiner ganzen Hoffnung an den Fahrplan und fragte jede Stadt: »Haben Sie meine Frau gesehen?« DochJacquelines Zug war bereits in weiter Ferne. Wenn sie Marcel keuchend mit zugeschnürter Kehle dort stehen gesehen hätte, während sein Blick über die Schienen und die Gesichter irrte, wäre sie nicht gefahren. Doch sie sah ihn nicht, denn Marcel war erst gekommen, als ihr Zug schon in dem Gewirr der Schienen unter dem grauen Himmel untergetaucht war. Er war zum richtigen Ort gekommen, aber zu spät.
»Verzeihung, sitzt hier jemand?«
Von allen mit Gepäck belegten Plätzen in diesem Abteil musste die junge Frau ausgerechnet den auswählen, auf dem Jacqueline ihren Mantel, zwei Reisetaschen und die Handtasche abgelegt hatte. Jacqueline hob den Blick, doch als ihr einfiel, dass ihre Augen vielleicht verweint waren, wandte sie ihn schnell wieder ab.
»Nein, aber ...«, entgegnete sie mürrisch.
Widerwillig zerrte Jacqueline an ihrem Gepäck, ohne es jedoch von dem Sitz zu nehmen, um dem Störenfried deutlich zu machen, dass ihre Besitztümer nirgendwo anders liegen konnten und dass die junge Frau sich einen anderen Platz suchen musste. Doch zu Jacquelines großer Verärgerung ergriff diese das Gepäck und warf es achtlos auf die Gepäckablage, die dafür vorgesehen war.
»Passen Sie auf, sonst geht noch was kaputt«, warf Jacqueline schüchtern ein.
»Sehen Sie, dann ist es da oben auch besser aufgehoben als vor meinen Füßen«, entgegnete die Fremde mit kaum verhohlener Ungeduld.
Die junge Frau ließ sich auf den Sitz fallen und klappte ungehalten die Armlehne herunter, die sie von Jacqueline trennte. Sie seufzte tief und schloss die Augen. Jacqueline seufzte ebenfalls. Diese Sitznachbarin, auf die sie gerne verzichtet hätte, passte mit der Dreistigkeit ihrer dreißig Jahre, in ihrer Jeans mit den ausgefransten Säumen und den maskulinen Gebärden in diese Zeit. Sie fühlte sich sicher wohl in dieser Welt, in der Bequemlichkeit und ein Mangel an Umgangsformen immer mehr um sich griffen und es an Respekt, Eleganz und gutem Benehmen mangelte. Es war wohl eher Jacqueline mit ihrem altmodischen Charme und dem zu jeder Jahreszeit passenden Lippenstift, die hier nicht mehr am rechten Platz war. Bei diesem Gedanken wanderten ihre alten Augen zu der Landschaft, die vorüberzog. Die verschwommenen Bäume versuchten vergebens, Jacquelines Blick auf sich zu lenken. Doch alles, was sie sah, waren die Schienen, denen sie nicht entrinnen konnte und die sie an kein Ziel brachten. Sie fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf Marseille zu, aber was würde sie dort tun? Das Gesicht in dem Vorhang neben dem Fenster des Zuges versteckt, weinte sie leise, und sobald ein Tunnel kam, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Eine alte Dame, die ihre Traurigkeit in den Vorhängen eines Zugabteils verbarg.
»Guten Tag, meine Damen, Ihre Fahrausweise bitte ...«
Als Jacqueline dem Kontrolleur die Fahrkarte reichte und sich die Wangen mit der Rückseite ihrer eisigen Hand trocknete, bemerkte sie den verwunderten Blick des Mannes, mit dem er sie beide musterte.
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