Als gaebe es kein Gestern
für ihn da sein! Ich wollte anders sein als Jan – besser. Papa war immer so stolz auf mich, wenn ich mitgearbeitet habe. Wie oft hat er gesagt, dass ich alles noch viel besser hinkriege als Jan! Und dann ist Jan abgehauen. Was sollte ich denn machen? Sollte ich Papa mit all der Arbeit allein lassen? Obwohl er mich jetzt noch tausendmal mehr brauchte?
Brauchte , echote es in Livias Kopf, brauchte, brauchte, brauchte …
Jan hat mich von Anfang an gewarnt. „Tu es nicht“, hat er gesagt, „schon gar nicht meinetwegen. Begib dich nicht in totale Abhängigkeit von Mama und Papa.“
Aber ich wollte ja nicht auf ihn hören. Oder konnte ich nicht?
Livia schluckte und versuchte, in ihr Herz hineinzuhorchen. Was da stand, war genau das, was sie fühlte! Einerseits wollte sie fort von hier, alles stehen und liegen lassen. Andererseits konnte sie es nicht tun, selbst jetzt nicht, nach diesem Streit! Wenn sie ihre Eltern verließ, blieb ihr nichts mehr. Dann gab es niemanden mehr, für den sie wichtig war, niemanden!
Ich kann mich daran erinnern, dass ich Jan mal gefragt habe, warum er gegangen ist. Damals hat er geantwortet, er habe das Gefühl, dass er hier auf dem Hof wie in einer Zwangsjacke stecke. Er habe keine Möglichkeit herauszufinden, wer er wirklich sei, aber gerade das sei doch seine Verantwortung: herauszufinden, was in ihm stecke, und genau das aus sich herauszuholen.
Ich weiß noch genau, was ich geantwortet habe.
„Verantwortung?“, habe ich gesagt. „Gerade du sprichst von Verantwortung? Ein Egoist wie du, der nicht weiß, wie man Dankbarkeit buchstabiert?“
Er hat nur frustriert den Kopf geschüttelt und ist gegangen. Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass ich nicht verstehe, was er meint.
Aber ich habe angefangen, darüber nachzudenken. Eigentlich ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht darüber nachgedacht hätte. Und heute verstehe ich es vielleicht schon etwas besser. Der Gedanke an Henning fühlt sich auch wie eine Zwangsjacke an. Ich weiß, dass ich neben Henning nicht viel Beachtung finden, geschweige denn etwas aus mir herausholen werde. Aber welche Alternative hab ich denn? Ich hab mein Leben auf diesem Hof verbracht! Ich könnte gar nicht alleine oder woanders leben.
Na ja , dachte Livia.
Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob überhaupt etwas in mir steckt, das sich herauszuholen lohnt. Was kann ich schon? Ich hab einen mittelmäßigen Realschulabschluss gemacht und in der Lehre auch nicht gerade geglänzt. Ich kann weder gut singen noch kann ich gut malen oder handarbeiten. Ein Künstler steckt jedenfalls nicht in mir.
An dieser Stelle runzelte Livia die Stirn und dachte an die Blumengestecke, die sie bei Hedda gezaubert hatte. Immerhin etwas …
Ich kann vielleicht ein bisschen kochen, krieg aber nur das hin, was Mama mir vorher gezeigt hat. Im Grunde … gibt es nur eine einzige Sache, in der ich wirklich gut bin: arbeiten. Ich arbeite rund um die Uhr, ohne auch nur einmal zu murren. Und genau diese Eigenschaft ist es doch, die Henning braucht. Also bitte: Warum sollte ich ihm einen Korb geben?
Livia schluckte und konnte nicht umhin, über ihr Handicap nachzudenken. Das Arbeitspferd von damals war sie jedenfalls nicht mehr … Sie konnte ja nicht einmal richtig Kartoffeln schälen!
Sie schob das Tagebuch ein Stück von sich weg und atmete erst einmal tief durch. Aber es war ein zittriges Atmen. Im Moment fühlte sie sich ein bisschen wie ertappt. Wie war es nur möglich, dass man all seine Erinnerungen verlor und dennoch derselbe Mensch blieb? Mit den gleichen Fragen?
Ein Geräusch ertönte und ließ Livia zusammenfahren. Sie blickte nach oben. Auf dem Veluxfenster, das sich rechts von ihr befand, lag ein Zweig, der wahrscheinlich vom Wind dorthin geweht worden war. Er rutschte ein Stück nach rechts, dann wieder nach links und wurde im nächsten Moment davongefegt. Es war stürmisch draußen, genau wie in ihrem Herzen …
Sie nahm das Tagebuch erneut zur Hand und las weiter.
Die nächste Eintragung begann mit den Worten:
Heute waren wir wieder in der Kirche. Ich gehe wirklich gern dorthin. Eigentlich ist es gar nicht wegen des Gottesdienstes, sondern wegen Pastor Wittek. Er ist sooooo nett. Obwohl ich schon seit Jahren nicht mehr in den Konfirmationsunterricht gehe, scheint er mich nicht zu vergessen. Er begrüßt mich immer und fragt, wie es mir geht. Das tut sonst eigentlich niemand. Weil ich ihn so gerne mag, hör ich immer gut zu, was er predigt. Manchmal frage
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