Als Gott ein Kaninchen war
innehielt und mich anstarrte. Heute glaube ich, dass das, was sie in meinen Augen sah und ich in ihren– die Angst – daher rührte, dass sie wusste, was passiert war. Also streckte ich die Hand nach ihr aus, nach ihr, dem Rettungsanker.
Sie wandte sich ab.
» Warum hat er dich angelogen?«, sagte sie hastig. » Schuldgefühle, das ist alles. Manchmal hält das Leben zu viel Gutes für einen bereit. Man fühlt sich dessen nicht würdig.«
Esther Golan ließ mich ertrinken.
Meine Mutter schob es auf den Schock, eine verspätete Reaktion auf den plötzlichen Tod ihrer Eltern. So habe es angefangen mit ihrem Knoten, sagte sie, während sie die Bakewell-Torte auf den Küchentisch stellte und uns Teller reichte. Der Auslöser einer widernatürlichen Energie, sagte sie, die aufgewirbelt werde und immer mehr an Schwungkraft gewinne, bis man es eines Tages, wenn man sich nach dem Baden abtrockne, in der Brust spüre. Und man wisse, dass er dort nicht sein sollte, aber man ignoriere es, und die Monate vergingen, und die Angst lasse ihn noch größer werden, und dann sitze man eines Tages beim Arzt und sage: » Ich habe da einen Knoten gefunden«, während man seine Strickjacke aufknöpfe.
Mein Vater war sich sicher, dass es ein bösartiger Knoten sei. Nicht etwa, weil meine Mutter genetisch dazu veranlagt war, sondern weil er stets auf der Hut war vor dem Saboteur seines wunderbaren Lebens. Nachdem meine Mutter den Knoten gefunden hatte, glaubte er auf einmal, dass das Gute nicht ewig währen würde, und dass selbst ein Glas, das gerade noch halbvoll war, ganz plötzlich halbleer sein konnte. Es war seltsam, mit anzusehen, wie sein Idealismus so schnell dahinschmolz.
Meine Mutter würde nicht lange fort sein, höchstens ein paar Tage für die Biopsie und die genaue Diagnose, und sie packte mit einer gelassenen Zuversicht, als würde sie Urlaub machen. Sie nahm nur ihre beste Kleidung mit und auch Parfüm und sogar einen Roman– einen, den sie als gutes Buch bezeichnete. Die Oberteile wurden sorgsam zusammengelegt, und ein kleines Lavendel-Duftsäckchen wurde zwischen die Baumwolle und das Seidenpapier geschoben, so dass die Ärzte schon bald rufen würden: » Sie riechen aber gut! Das ist Lavendel, oder?« Und sie würde den Medizinstudenten huldvoll zunicken, die sich um ihr Bett versammelt hatten, damit ihr einer nach dem anderen seine Diagnose überbringen konnte, über das Geschwulst, das unerlaubt Zuflucht in ihr gefunden hatte. Sie packte auch einen nagelneuen Pyjama in ihre kleine Reisetasche mit dem Schottenmuster. Ich ließ meine Hand über den Stoff gleiten.
» Er ist aus Seide«, sagte meine Mutter. » Nancy hat ihn mir geschenkt.«
» Nancy kauft dir aber schöne Geschenke, nicht?«
» Sie kommt für eine Weile her, weißt du.«
» Ja, ich weiß.«
» Um Papa zu helfen, auf dich aufzupassen.«
» Ich weiß.«
» Das ist doch gut, oder?«, fragte sie.
(Da war er wieder, der Ratgeber aus Amerika, und das Kapitel hieß: » Wie man Kindern schwierige Dinge mitteilt«.)
» Ja«, sagte ich leise.
Es war seltsam, dass sie wegging. Bisher war sie vorbehaltlos und beständig präsent gewesen. Immer da. Wir waren ihre Karriere, und vor langer Zeit schon hatte sie die andere Welt aufgegeben und sich stattdessen dazu entschlossen, Tag und Nacht für uns da zu sein, in beständiger Wachsamkeit. Ihr Schild, wie sie uns eines Tages anvertrauen würde, gegen den Polizeibeamten an der Tür, gegen den Fremden am Telefon, gegen die düstere Stimme, die verkündete, dass der Lebensfaden wieder einmal gerissen war: gegen diesen nicht zu flickenden Riss, der im Herzen beginnt.
Ich saß auf dem Bett und vermerkte innerlich ihre guten Eigenschaften, auf eine Weise, die sich die meisten Menschen für eine Grabinschrift vorbehalten würden. Meine Angst war so leise wie ihre sich stetig vermehrenden Zellen. Meine Mutter war schön. Sie hatte wundervolle Hände, die ein Gespräch mit ihr zu etwas Höherem erhoben. Wäre sie taubstumm gewesen, dann wären die Gesten der Gebärdensprache bei ihr sicher so elegant wie die Verse eines Dichters. Ich betrachtete ihre Augen: blau, blau, blau; genau wie meine. In Gedanken sang ich die Farbe vor mich hin, bis sie mich überschwemmte wie Meerwasser.
Meine Mutter hielt inne, streckte sich und legte sanft die Hand auf ihre Brust. Vielleicht sagte sie dem Knoten Lebewohl, oder stellte sich gerade den Schnitt vor. Vielleicht stellte ich ihn mir vor.
Ich erschauderte und sagte: » Ich
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