Gefährliches Doppel - Duisburg-Krimi
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Heribert Heitkämper goss sich seinen zweiten Kaffee ein. Nicht ein Tropfen blieb in der Kanne, als seine Tasse exakt bis zur richtigen Höhe gefüllt war. Er hatte es genau berechnet. Sein Rührei hatte er sich ebenfalls auf zwei gleich große Portionen aufgeteilt. Er aß nun die zweite, während er missmutig aus dem geöffneten Fenster sah. Trotz der frühen Morgenstunde drang schwüle Luft herein. Gleichzeitig verhüllten dunkle Wolken die Sonne, als kündigten sie den Weltuntergang oder zumindest ein Unheil an.
Vergeblich hielt er nach einem kleinen Lichtblick Ausschau. Nicht einmal ein kleiner, blauer Fetzen war am Himmel zu sehen. Offensichtlich hatte sich die Gewitterfront der letzten Nacht noch nicht verzogen. Leider war heute Sonntag, und Heitkämper würde sich schrecklich langweiligen. Er langweilte sich immer, wenn er freihatte. Während seine Kollegen das Wochenende genossen, hätte er am liebsten an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. Er liebte seine Arbeit ebenso wie seine Gewohnheiten. Eine davon bestand darin, sonntags in aller Frühe eine große Runde mit dem Fahrrad zu drehen. Heitkämper wohnte auf der Deichstraße in Duisburg-Laar in der dritten Etage eines neueren Mietshauses, hoch genug, um von seinem Balkon auf den Rhein blicken zu können.
Heitkämper verließ seine Wohnung wie immer genau nach den Nachrichten um sieben Uhr, genauso wie er immer dieselbe Rou te abfuhr, als sei sie ihm einprogrammiert worden wie einem Zugvogel. Schuldbewusst schielte er zu dem Helm, der im Keller an einem Haken über seinem Fahrrad hing. Den Helm hatte er zum Geburtstag von seiner fast neunzigjährigen Mutter bekommen. Die alte Dame war sehr um seine Sicherheit besorgt. Zu sehr, wie er fand.
Während er versuchte, den Gedanken an seine Mutter zu verdrän gen, radelte er in Richtung Ruhrort, bis er einen Weg erreichte, der zum Deich hinaufführte. Von hier oben hatte er einen besseren Überblick: auf die riesige Grubenlampe, die man unlängst als Berg baudenkmal auf einer Halde platziert hatte, auf die Autobahnbrücke, die im Hintergrund mit leuchtend roten Streben den Rhein überspannte, davor die dunkle Eisenbahnbrücke, weiter rechts den oberen Teil eines Gasometers. Am Ufer führten zwei Hundebesitzer ihre Lieblinge Gassi.
Heitkämper mochte diese Mischung aus Industrie und Natur. Selbst die Kunst kam nicht zu kurz. Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts saß der Laarer Junge auf einem Dach mit Blick auf den Rhein und grüßte die vorbeifahrenden Binnenschiffer. Manchmal gewann Heitkämper jedoch den Eindruck, er schaue auf ihn herab. Mit verkniffenen Gesichtszügen schielte er zu einem der Nachbarhäuser mit Fassadenmalerei, zwei Anker und ein Steuerrad verzierten die Vorderfront. Hier hatte seine Mutter gelebt , bevor er ihr einen Platz im Seniorenwohnheim in Huckingen be sorgt hatte. Wie oft hatte sie hinter den kurzen Gardinen mit Blick auf den Deich auf ihn gelauert und nicht begreifen können, warum er an ihrer Wohnung vorbeifuhr, ohne anzuklopfen.
Unwillig schob er die Gedanken an seine Mutter beiseite. Er gab sich nicht gerne irgendwelchen Gefühlsregungen hin, erst recht keinen Schuldgefühlen. Schließlich war er ein Mann von Zahlen. Zahlen waren fast das Einzige, was in seinem Leben wirklich zähl te, dicht gefolgt von penibler Ablage und geordneten Abläufen. In seiner Firma pflegte man sich darüber lustig zu machen. Heitkämper ist so berechenbar wie eine Präzisionsmaschine, wit z elten die Kollegen. Doch er nahm ihnen das nicht übel. In gewisser Weise empfand er diese Charakterisierung sogar als Kompliment.
Inzwischen hatte er die Stelle erreicht, wo eine Reihe Pappeln den Deich säumte. Diesen Teil der Route mochte er ganz beson ders. Er liebte den Blick über die Kleingartenanlage. Irgendwo hatte er gelesen, dass es in der Stadt Duisburg über hundert Schrebergartenanlagen geben sollte. Eilig passierte er das Gelände des Sankt Joseph Krankenhauses. Etwas weiter entfernt, hinter einer Wiese mit Obstbäumen, stieß die Sinteranlage von Beeckerwerth gerade eine unverkennbare rötliche Wolke Sinterstaub in den Himmel. Heitkämper verzog das Gesicht. Er mochte lieber nicht wissen, welchen Anteil die Wolke an der Feinstaubbelastung hatte. Dafür schaffte die Anlage natürlich einige Arbeitsplätze. In Gedanken vertieft verließ er den Deich. An den monströsen Betonpfeilern der Autobahnbrücke klebten Werbeplakate und versprachen ein Leben, das Heitkämper nicht einmal zu träumen
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