Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
Vom Netzwerk:
Wachsamkeit. Es war bloß Ablenkung. Ich war überall mit ihm, nur nicht hier.
    Ich hörte, wie die Eingangstür sich öffnete und leise wieder schloss. Es war Charlie. Seine Schritte hallten durch den stillen Raum, den Raum, der atemlos auf Neuigkeiten wartete. Schritte im Flur. Das gedämpfte Geräusch des Fernsehers. Dann wurde er wieder ausgeschaltet. Runter in die Küche. Der Wasserhahn wurde aufgedreht. Ein Glas gefüllt. Und dann kamen Schritte die Treppe hinauf, das Quietschen der Badezimmertür, die Toilettenspülung, das schwere Plumpsen eines Körpers auf ein Bett. So lief es für gewöhnlich. Aber in dieser Nacht war etwas anders; eine winzige Abweichung. Er kam nicht die Treppe hoch, öffnete stattdessen die Hintertür und ging hinaus in den Garten.
    Er saß am Tisch und rauchte. Eine Kerze flackerte vor ihm. Es kam nicht oft vor, dass er rauchte.
    » Willst du lieber allein sein?«, fragte ich.
    Er schob mir einen Stuhl hin und warf mir seinen Pulli zu.
    » Ich habe ihn geliebt«, sagte er.
    » Ich weiß.«
    » Und ich höre mir immer wieder die Nachrichten an, die er mir hinterlassen hat. Ich möchte einfach seine Stimme hören. Ich glaub, ich dreh noch durch.«
    Ich nahm mir eine Zigarette und zündete sie an.
    » Ich hab es ihm ein paar Tage, bevor das alles passiert ist, gesagt«, gestand er. » Hab ihm einfach gesagt, was ich will. Was ich für uns will. Hab ihn gefragt, warum wir den Schritt nicht einfach machen, warum er nicht mit mir zusammen sein kann. Ich weiß, dass er mich auch geliebt hat. Wovor hatte er bloß so viel Angst, Ell? Warum konnte er es nicht? Verdammt, warum konnte er nicht einfach Ja sagen? Vielleicht wäre dann alles anders gelaufen.«
    Ich ließ seine Fragen in der Dunkelheit aufgehen, wo sie sich mit all den anderen unbeantworteten Fragen vermischten, die in dieser Nacht über Manhattan hingen, drückend, unwiederbringlich, unendlich grausam. Niemand hatte Antworten.
    Die Luft, die durch die Fensterläden sickerte, fühlte sich kühler an. Ich kippte die Schachtel mit den Fotos auf dem Boden aus, und wir suchten zwei Stunden lang, bis wir eins gefunden hatten, mit dem wir alle einverstanden waren. Dasjenige, das am meisten nach ihm aussah, so wie wir alle ihn kannten: lächelnd, mit dem glitzernden Pool des Raleigh Hotels im Hintergrund. Es war die Reise, auf der er mir meinen Stift mit der türkisfarbenen Tinte stibitzt hatte. Letzten Februar, als wir uns in Miami trafen, um im Winter ein bisschen Sonne zu tanken. Die teuerste Art von Sonne.
    Wir einigten uns auf einen Text, und dann ging ich zum Copyshop, um ein paar Kopien machen zu lassen, und der Mann dort betrachtete sie ruhig. Er hatte schon Hunderte davon gesehen, und es war einfach noch ein weiteres Foto. Als die Kopien fertig waren, wollte er mein Geld nicht nehmen. Diese Geste brachte mich zum Weinen.
    Ich musste es mit eigenen Augen sehen und auf eigene Faust, also ließ ich die anderen beiden sich ausruhen, denn sie hatten schon zu viel sehen müssen, und ging allein. Ich ging einfach Richtung Süden, dorthin, wo sie vorher gestanden und die Skyline dominiert hatten. Man konnte sich nicht darauf vorbereiten. Ich versteckte mich hinter den dunklen Gläsern meiner Sonnenbrille und schirmte mich so von der Hölle ab.
    Wer hat meinen Mann gesehen?
    Mein Papi war ein Kellner.
    Meine Schwester heißt Erin.
    Meine Frau und ich haben gerade erst geheiratet.
    Sie wird vermisst…
    Die Hauswände im Stadtzentrum waren mit Gedichten und Worten und Bildern und Gebeten gepflastert, so weit das Auge reichte, wie eine groteske Schauergeschichte von unvorbereiteter Verzweiflung. Menschen schritten lesend langsam daran vorbei, und wenn ein Feuerwehrmann oder andere Rettungskräfte vorbeikamen, gab es einen Moment lang Applaus, aber sie blickten nie auf, denn sie wussten Bescheid. Sie wussten, dass es keine Überlebenden mehr geben würde. Hatten es vor allen anderen gewusst. Und sie blickten nicht auf, weil sie so erschöpft waren und nicht geschlafen hatten, natürlich war es ihnen unmöglich zu schlafen, denn sie waren umgeben von Fotos, die ihnen sagten: Finde mich, finde mich. Wie konnten sie da– wie würden sie je wieder– schlafen?
    Ich fand ein Fleckchen neben dem Bild einer Frau, die im Restaurant gearbeitet hatte. Sie sah nett aus, eine nette Großmutter, und ich klebte sein Bild neben ihres. Ich erwartete nicht, dass man ihn finden würde, nicht wirklich. Ich wollte einfach nur, dass die Leute ihn sahen und sich

Weitere Kostenlose Bücher