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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
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gefunden werden.«
    Ich hatte sofort versucht, einen Flug zu bekommen, aber die Meisten waren annulliert worden oder nach Kanada umgeleitet. Nur ein paar Tage, sagte der Mitarbeiter der Flughotline, dann laufe wieder alles normal. Wieder dieses Wort. Ich ließ meinen Namen auf die Warteliste setzen. Ich würde den ersten Flug nehmen, der rausging, ich musste es mit eigenen Augen sehen. Denn ich konnte meinen Eltern nicht wieder gegenübertreten, ohne etwas, mit dem ich ihr Schweigen brechen konnte. Entweder ein Schrei oder ein Lachen.
    Ich trank noch ein Glas Wein. Wartete auf den Anruf, den er mir versprochen hatte. Ich sah zu, wie die Lastwagen ankamen und parkten, hörte das sanfte Brummen der Kühlanlagen. Ich schenkte mir Wein nach; machte die Flasche leer.
    Es war Stunden her; musste schon Stunden her sein. Ich sah auf die Uhr. Er hatte gesagt, er würde zu Joes Haus fahren. Die Polizei hatte zwar alles unterhalb der vierzehnten Straße abgesperrt, aber er würde irgendwie hinkommen, hatte er gesagt, nur um sicherzugehen. Der Geruch, Elly; das war das Letzte, was er mir am Telefon gesagt hatte. Der Geruch.
    Mein Handy klingelte. Der Akku war fast leer. Es war Charlie, endlich.
    » Hey«, sagte er mit dünner, leerer Stimme.
    » Wie geht’s dir?«
    » Okay.«
    » Was ist los, Charlie?«
    » Ich habe seinen Kalender gefunden«, sagte er, seine Worte waren kaum hörbar. » Da steht, dass er dort war.«

Duke/Büro/8:30 Uhr
    Es war ein knapper Kalendereintrag. Geschrieben mit türkisfarbener Tinte. Es war die Tinte aus dem Stift, den er mir letzten Februar stibitzt hatte. Natürlich telefonierten wir herum, aber es gab nicht viele, die wir anrufen konnten. Diejenigen, die dort gewesen waren, die es rausgeschafft hatten, konnten sich kaum an etwas erinnern, sie standen noch unter Schock.
    » Ja, ich glaube, er war da«, sagten sie, oder: » Nein, ich hab ihn nicht gesehen.« Daraus wurden wir also nicht schlauer, mussten weiter hoffen und bangen.
    Duke hatte es nicht geschafft. Manche sagten, er sei genau an der Einschlagsstelle gewesen, andere meinten, er sei übers Treppenhaus nach oben gegangen, um nach einem Kollegen zu suchen. Das sähe Duke ähnlich; zurückzugehen, um jemand anderem zu helfen. Deshalb nannten ihn auch alle Duke, den Herzog.
    Als ich in New York ankam, hatten Nancy und Charlie noch nichts im Haus angefasst. Sie wollten nichts verändern für den Fall, dass ich vielleicht noch irgendwo einen Hinweis entdecken würde. Einen Hinweis auf seinen Verbleib, den sie vielleicht übersehen haben mochten. Aber alles, was ich sah, war ein voller Kühlschrank und eine halbleere Flasche seines Lieblingsweins, beides Hinweise, die sagten: » Ich komme gleich wieder, ich geh nicht weit«.
    Sie hatten alle Krankenhäuser abgeklappert, Nancy in Brooklyn, Charlie in Manhattan, hatten Abstecher nach New Jersey gemacht und zu den provisorischen Leichenhallen. Nancy hatte seinen Namen durchgegeben, hatte ihn zweimal ganz deutlich gesagt, war aber trotzdem noch einmal danach gefragt worden. Es waren so viele Stimmen, die gegen das überlastete Netz ankämpfen mussten. Draußen lehnte sie sich an eine Wand und versuchte zu weinen, aber Tränen, genauso wie das Fassungsvermögen, waren ihr abhandengekommen und gehörten der Vergangenheit an. Nichts und niemand konnte sie trösten. Jeder hatte seine eigene Trauergeschichte. Jede war schlimmer als die andere.
    Der Geruch war beißend: verbranntes Gummi und Benzin und dieses andere Unaussprechliche, das sich in der Nase festsetzte und Bilder des Grauens heraufbeschwor. Charlie hatte mich davor gewarnt, und ich roch es noch immer, jedes Mal, wenn ich hinausging, sogar im Garten, denn dort blühte nichts, was den Gestank überdeckt hätte. Denn letztendlich war es der Geruch des Schocks, der die Stadt betäubte, ein säuerlicher Geruch, wie der von wochenaltem Urin. Ich zog einen seiner alten Klappstühle heraus und wischte ihn ab. Er brach zusammen, als ich mich daraufsetzte. Das linke Scharnier war kaputt; er hatte es noch immer nicht repariert.
    Wir hatten diesen kleinen Garten zusammen entworfen, die Düfte, die Farben, die Töpfe mit dicht gesätem Lavendel, Rittersporn, Zitronenmyrte im Schatten vor der Küche geplant. Die üppigen Beete voll unersättlicher Pfingstrosen und die Reihen von weißen Levkojen, deren Duft » England Forever« zu sagen schien, und natürlich die dunkelrote Kletterrose, die sich an der Eisentreppe hochwand, an die Mauer geschmiegt wie ein

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