Als Gott ein Kaninchen war
ihrer Freundschaft, und sie ließen einander nicht los. Wer beruhigte wen? Wer könnte das? Waren es Worte oder ein Lächeln? Der kurze Moment frischer Luft, als sie frei waren, in dem sie sich noch erinnern konnten, wie es vorher war; ein kurzer Moment Sonnenschein, ein kurzer Moment, in dem sich zwei Freunde an den Händen hielten. Und sie ließen einander nicht los. Freunde lassen sich nicht los.
Ich nahm ab.
» Nein, hab ich nicht«, sagte ich. » Noch nicht.«
Ich klang müde, das war mir bewusst. Ich hörte die Angst in ihrer Stimme und versuchte, sie zu beruhigen, aber sie war eine Mutter, und sie war voller Angst. Sie hatte Nachricht von Nancy, die versucht hatte, vom Flughafen Los Angeles nach New York zu fliegen, aber die Flughäfen waren dicht. Ein Flieger war ins Pentagon gerast.
» Joe«, sagte ich wieder. » Ruf mich zurück– nur ein kurzes Lebenszeichen.«
» Charlie, ich noch mal. Ruf mich an. Bitte.«
Auch die Leute um mich herum hingen an ihren Handys, die Glücklichen unter ihnen hatten ihre Freunde erreicht; andere mussten weiter im Ungewissen ausharren, bleich. Ich war eine von ihnen.
Vierzehn Uhr neunundfünfzig. Der Südturm sank in sich zusammen, in einer Wolke aus Millionen Papierfetzen, Memos und Entwürfen mit den Namen derer, die nun verloren waren, bis er ganz verschwunden war und mit ihm alle, die noch darin waren. Und ihr Albtraum war vorbei, vererbt an diejenigen, die zurückblieben, diejenigen, die gebangt hatten und nun an ihren Telefonen trauerten.
Ich rief noch einmal an. Diesmal war nicht die Mailbox dran, nichts. Ein weiteres Flugzeug war vor Pittsburgh abgestürzt; das Gerücht, dass es abgeschossen worden war, machte die Runde – schon gab es die ersten Verschwörungstheorien. Gerüchte züchten Gerüchte. So hätte es Jenny Penny gesagt.
Der Turm fällt. Nichts kann mehr sein wie zuvor.
Fünfzehn Uhr achtundzwanzig. Nordturm eingestürzt. Szenen einer staubigen Mondlandschaft, wo sich einst Straßen voller Menschen mit Kaffeebechern in den Händen befanden, die gut gelaunt zur Arbeit eilten. Vielleicht dachten sie schon an ihre Verabredung zum Mittagessen oder an das, was sie später tun würden, denn zu dem Zeitpunkt, an diesem Morgen, gab es für sie noch ein Später. Und als die Staubwolken sich lichteten, schleppten sich Überlebende heraus, verstört und voller Asche, und ein Mann, dessen Hemd zerrissen war und eine blutende Wunde am Oberkörper offenbarte, strich sich seinen Seitenscheitel glatt. Weil er sich schon immer das Haar glatt zur Seite gestrichen hatte – das war etwas, das schon seine Mutter gemacht hatte, als er noch ein Kind war –, warum also sollte es an diesem Tag anders sein? Es war sein Ringen um Normalität. Ruf mich an, Joe. Ruf mich an, Charlie. Ich will, dass alles wieder normal ist.
Und da hätte ich es tun können. Ich hätte zur Vermeer-Ausstellung schlendern können, um mir die Schönheit in Erinnerung zu rufen. Ich hätte einfach dorthin gehen und so tun können, als sei alles normal. Ich hätte mich in einem Vergnügen verlieren können, das ich noch von diesem Morgen kannte, denn es war noch so nah, und ich konnte mich noch erinnern an alles, was war, bevor die Welt eine andere wurde.
All das hätte ich tun können, und ich hätte es wohl auch gemacht, wenn ich nicht stattdessen den Anruf entgegengenommen und zu zittern begonnen hätte, als ich seine Stimme hörte. Er redete schnell, und Panik klang aus seiner Stimme, aber er war okay. Er war nicht zur Arbeit gegangen an diesem Morgen, war spät aufgestanden, und ich erzählte ihm von den Berichten hier, von all den Gerüchten, die ich gehört hatte. Aber er sagte mir, ich solle damit aufhören, und ich hörte ihm zunächst gar nicht zu, weil ich so erleichtert war. Aber dann schrie er mich an, und nun hörte ich ihm endlich zu.
» Ich kann Joe nirgends finden«, schrie er, und seine Stimme brach.
Ich saß auf dem Dach, als das Licht langsam schwand. Nirgends mehr Relikte des Sommers. Das Murmeln des Fernsehers drang von unten herauf. Mir war so kalt. Ich wickelte mir eine alte Picknickdecke um die Schultern; sie gehörte eigentlich meinen Eltern, aber ich hatte sie ihnen nicht zurückgegeben, weil ich nie sicher war, wann ich sie wieder brauchen würde. Sie roch nach Gras und feuchter Wolle. Sie roch nach Cornwall. Ich musste wieder an die Stille denken, als die betäubende Möglichkeit über ihre Gedankenwelt hereinbrach, als ich ihnen sagte: » Euer Sohn kann nirgends
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