Als ich unsichtbar war
David und Kim vor einem ähnlichen Schicksal bewahren wollte. Ein Kind hatte sie bereits verloren, und jetzt sollten nicht auch noch ihre beiden überlebenden gesunden Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden.
So war es aber nicht immer gewesen. In den ersten zwei Jahren meiner Krankheit hatte meine Mutter genau wie mein Vater unermüdlich nach einer Heilmethode gesucht, um ihren Sohn zu retten, für den sie fürchtete, er müsse sterben, wenn er täglich mehr ihrem Einflussbereich entglitt. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, wie sehr meine Eltern litten, als sie mit ansehen mussten, wie ihr gesundes Kind ihnen genommen wurde, wie sie die Ärzte anflehten, wie sie die Verabreichung von Medikamenten verfolgten und schließlich ihre Zustimmung gaben, mich auf alles zu testen, von Gehirntuberkulose bis zu einer Unzahl genetischer Störungen, um letztendlich doch nur zu erfahren, dass es keine Hilfe für mich gebe.
Als die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende war, dachte meine Mutter nicht daran, einfach aufzugeben. Nachdem die Ärzte meinen Eltern mitgeteilt hatten, sie wüssten nicht, wie ich behandelt werden könnte, versorgte mich meine Mutter ein Jahr lang zu Hause und versuchte alles, vom Wunderheiler und Gesundbeter bis zu umfangreichen Vitaminkuren. Die Hoffnung trog, nichts half.
Meine Mutter wurde durch wachsende Schuldgefühle geplagt, da es ihr nicht gelungen war, mich zu retten. Sie war davon überzeugt, sie habe ihr Kind im Stich gelassen. Sie verzweifelte zusehends, als ihre Freundinnen und Verwandten wegblieben – einige, weil sie meine nicht diagnostizierte Krankheit bedrohlich fanden, andere, weil sie unsicher waren, wie sie Menschen trösten sollten, die mit dem für alle Eltern schlimmsten Albtraum konfrontiert waren. Welche Gründe auch immer vorliegen mochten, die Leute blieben auf Abstand und drückten ihre gesunden Kinder in stiller Dankbarkeit eng an sich, während meine Familie immer isolierter wurde.
Die Unzufriedenheit meiner Mutter steigerte sich bald dermaßen, dass sie ungefähr zwei Jahre nach Ausbruch meiner Krankheit eines Nachts versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie nahm eine Handvoll Tabletten und legte sich zum Sterben. Doch dann erinnerte sich Mam, was ihre Mutter ihr einmal über den plötzlichen Tod ihres Vaters nach einem Herzinfarkt erzählt hatte: Er hatte sich nie verabschiedet. Selbst in ihrem Nebel der Verzweiflung wollte meine Mutter ihrem Mann noch sagen, wie sehr sie uns alle liebe, und das rettete sie. Als Dad bemerkte, was sie getan hatte, packte er sie zusammen mit David, Kim und mir sowie einem Freund von David, der bei uns übernachtete, ins Auto und fuhr uns alle ins Krankenhaus.
Die Ärzte pumpten ihr den Magen aus, doch nach dieser Nacht wurde dem Freund meines Bruders nie mehr erlaubt, sich bei uns aufzuhalten, und die Isolation, die meine Eltern spürten, erfasste nun auch meine jüngeren Geschwister. Sie litten ebenfalls, während meine Mutter in einer psychiatrischen Abteilung behandelt wurde. Als sie wieder nach Hause kam, hatten die Ärzte beschlossen, sie dürfe sich nicht mehr an meiner Pflege beteiligen. Da sie dem Verlust ihres Kindes nachtrauere, solle sie so wenig wie möglich mit mir zu tun haben, um weitere Aufregung zu vermeiden. Sie – krank, gramerfüllt, gebeutelt und verzweifelt – hielt sich an das Verdikt der Ärzte und konzentrierte sich auf die Betreuung ihrer beiden gesunden Kinder. Nachdem sie sich wieder stark genug fühlte, kehrte sie in ihren Ganztags-Job zurück. Mein Vater schraubte seine anstrengende Arbeit zurück und kümmerte sich um mich, größtenteils ganz allein.
So lief es über viele Jahre hinweg, doch nach und nach hat sich die Situation geändert, in dem Maße, wie sich meine Mutter beruhigte und sich wieder an meiner Pflege beteiligte. Heute kümmert sie sich fast so viel um mich wie mein Vater, macht mir Spaghetti und Gehacktes mit Pfirsich-Chutneysoße, wovon sie weiß, dass ich es gerne mag, und manchmal bettet sie sogar meinen Kopf in ihren Schoß, wenn ich auf dem Sofa liege. Es macht mich glücklich, zu wissen, dass sie mich jetzt berühren kann, nachdem sie so lange davor zurückgeschreckt ist, so wie es mich traurig stimmt, wenn ich sie nachts Musik spielen höre, da ich weiß, dass sie dann von Kummer erfüllt ist und den Songtexten lauscht, um sich in der Vergangenheit und den Erinnerungen zu verlieren.
Traurigkeit erfasst mich auch, wenn ich an meinen Vater denke, der seine Ambitionen begrub,
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