Als ich unsichtbar war
Befehle befolgen kann – doch das kann auch ein Kleinkind. Daher muss ich mit kleinen Schritten beginnen und kann nur hoffen, dass die Leute, die mich unterrichten, schnell merken, zu wie viel mehr ich imstande bin.
Das wird eine ganze Weile dauern, aber zumindest bietet sich so ein Weg, den Leuten deutlich zu machen, dass ich Dinge verstehe, die sie mir nie zugetraut hätten. Babys mögen ja Tag für Tag püriertes Essen zu sich nehmen, ohne sich darüber zu beklagen, ich aber werde bald in der Lage sein, jemanden zu bitten, mir das Salz herüberzureichen. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich dann mein Essen würzen können.
----
9
Der Anfang und das Ende
D as Pflegeheim, in dem ich seit Beginn meiner Krankheit tagsüber untergebracht war, heißt ›Alpha and Omega‹, der Anfang und das Ende. Doch von beidem findet sich hier nicht allzu viel für mich, da ich in einer Hölle farbloser und langweiliger Tage, in völliger Monotonie gefangen bin.
Die Einrichtung ist in einem einstöckigen Gebäude untergebracht, mit zwei hellen und luftigen Räumen für die Kinder, einem kleinen Zimmer für die Physiotherapie und einem Garten. Manchmal werde ich nach draußen geschoben, doch normalerweise bleibe ich drinnen, wo ich aus einer Sitzposition in meinem Rollstuhl auf eine Matte am Fußboden gelegt werde. Meistens lässt man mich auf der Seite oder auf dem Rücken ruhen, aber mitunter werde ich mit dem Gesicht nach unten auf einen großen gepolsterten Keil gelegt, damit ein Pfleger mich ermuntern kann, meinen Kopf zu heben, indem er diesen mit der Handfläche antippt. Ansonsten liege ich reglos da, schaue auf minzgrüne Wände und höre das blecherne Geplapper aus dem Fernsehapparat oder dem Radio, das für ein konstantes Hintergrundgeräusch meiner Tage sorgt. Mir ist es lieber, wenn das Radio läuft, denn der Versuch, dem Fernsehen zu folgen, erfordert große Kraftanstrengung, und die bringe ich häufig nicht auf. Stattdessen starre ich auf die braunen Teppichfliesen und lausche auf Schritte, die draußen auf dem Linoleumboden des Korridors zu hören sind.
Man bedient sich hier einer der Grundschule angepassten Sprache, obwohl ich den Grund nicht erkennen kann, da man davon ausgeht, dass keines der Kinder lernfähig ist. Was auch immer man sich dabei gedacht haben mag, meine Leidensgenossen und ich haben ›Lehrer‹ und sind in zwei ›Klassen‹ eingeteilt, wobei von Zeit zu Zeit wahllos gewechselt wird. Manchmal werden wir in ›Kinder-die-gehen-können‹ und ›Kinder-die-es-nicht-können‹ aufgeteilt; dann wieder ist das Kriterium für die Aufteilung die Frage, wer Fortschritte macht. Einmal wurden wir sogar unserem IQ entsprechend sortiert, obwohl mir das als ziemliche Haarspalterei erschien, wenn bei jedem vorausgesetzt wird, dass sein IQ unter 30 liegt.
Gewöhnlich umfasst das Pflegepersonal ungefähr ein halbes Dutzend Personen, die uns jeden Tag versorgen und Aktivitäten wie das Strecken unserer Beine vornehmen oder unsere Hände in Farbe tauchen, bevor diese auf ein Stück Papier gepresst werden. Ein paar Kinder können sich ein wenig beteiligen, aber die meisten sind wie ich und haben nicht die erforderliche Kontrolle über ihre Bewegungen, um irgendetwas zu tun. Ich habe mich oft gefragt, zu wessen Nutzen so eine Aktivität gedacht ist, wenn ich dort sitze, man mir die Hand mit kalter roter Farbe beschmiert und sie dann über ein Blatt Papier zerrt: für uns oder unsere Eltern? Werden wir in die Rolle eines heimlichen Komplizen bei einer Notlüge gezwungen, wenn eine Pflegerin eine Zeichnung macht und dabei unsere Hand benutzt? Ich habe so häufig gesehen, wie Eltern eine Zeichnung überreicht wurde, von der sie wissen mussten, dass ihr Kind niemals dazu imstande gewesen wäre. Doch keiner von ihnen sagt ein Wort, wenn sie darauf starren.
Ein einziges Mal hörte ich, wie eine Mutter fragte, ob wirklich ihr Sohn das Bild gemalt habe, und die Pflegerin schenkte ihr ein stummes Lächeln, als wolle sie die Mutter eindringlich bitten, die Fassade falscher Zuversicht, die um uns herum aufgebaut wurde, nicht zu zerstören. Ich verstehe, weshalb Eltern einen Strohhalm haben möchten, an den sie sich klammern können, so klein und dünn er auch sein mag. Genauso verstehe ich, weshalb derartige Aktivitäten amüsant für Kinder sind, die Berührung und Ansprache als willkommene Abwechslung und Erleichterung an einem eintönig verlaufenden Tag empfinden; doch ich für meinen Teil möchte meistens, dass
Weitere Kostenlose Bücher