Als ich unsichtbar war
Beförderungen vergessen und Herabstufungen hinnehmen musste, um für mich sorgen zu können. Jeder Einzelne in unserer Familie – meine Eltern, mein Bruder und meine Schwester – hat einen hohen Preis für meine Krankheit gezahlt. Manchmal frage ich mich, ob all diese verlorenen Hoffnungen und Träume der Grund dafür sind, weshalb ein derart intelligenter Mann wie mein Vater gelernt hat, seine Gefühle so tief zu verbergen, dass ich zuweilen zweifle, ob er überhaupt noch weiß, wo sie sind.
----
8
Veränderungen
M an nennt es den ›Butterfly Effect‹ – die gewaltigen Veränderungen, die ein Paar seidiger Flügel mit kaum wahrnehmbaren Schlägen hervorrufen kann. Ich glaube, irgendwo in meinem Leben schlägt ein Schmetterling mit seinen Flügeln für mich. Für einen außenstehenden Beobachter haben sich die Dinge vermutlich kaum geändert, seit man mich getestet hat: Nach wie vor komme ich jeden Morgen in mein Pflegeheim und seufze erleichtert, wenn sich der Nachmittag dem Ende zuneigt und ich nach Hause kann, um gefüttert, gewaschen und für das Bett zurechtgemacht zu werden. Aber Monotonie ist ein vertrauter Feind, und selbst die kleinsten Veränderungen im Tagesablauf sind bemerkenswert.
Die Pflegerinnen, die ich in meinem Tagesheim, bei den Behandlungen in der Physiotherapie oder bei Terminen mit Ärzten im Krankenhaus sehe, scheinen sich nicht sonderlich den Kopf über die Aussage einer Spezialistin zu zerbrechen, dass ich möglicherweise bald in der Lage sei, zu kommunizieren. Wenn ich bedenke, was ich hier alles gesehen habe, bin ich überrascht, dass einige unter ihnen nicht etwas beunruhigter sind. Doch ganz gewiss spüre ich einen Wandel in der Art, wie meine Eltern mit mir reden, nachdem mich die Sprachtherapeuten untersucht haben. Wenn Mam fragt, ob ich genug gegessen habe, wartet sie etwas länger, bis mein Kopf nach unten fällt oder mein Mund zu lachen beginnt. Mein Vater spricht jetzt mehr und mehr zu mir, wenn er mir abends die Zähne putzt. Die Veränderungen sind so gering, dass sie meinen Eltern vielleicht nicht einmal bewusst sind, doch zum ersten Mal seit Jahren scheint Hoffnung in der Luft zu liegen.
Ich habe inzwischen genug gehört, um zu wissen, dass die ersten geeigneten Schritte zum Einüben einer Kommunikation auf dem niedrigsten Niveau beginnen müssen. Es wird also kein Hollywood-Film mit einem hübschen Happy End sein oder eine Reise nach Lourdes, wo den Stummen auf wundersame Weise eine Stimme geschenkt wird. Im Abschlussbericht der Sprachtherapeuten wird meiner Mutter und meinem Vater empfohlen, anfangs nur die allereinfachsten Formen der Kommunikation mit mir zu suchen. Offenbar sind meine Kopfbewegung und mein Lächeln weniger verlässlich, als ich dachte, daher muss ich einen eindeutigeren Weg beschreiten, mein Ja oder Nein zu signalisieren. Da meine Hände zu unzuverlässig sind, um klare Zeichen zu geben, ist das Starren auf Symbole die beste Möglichkeit für mich, mit dem ›Sprechen‹ zu beginnen.
Ich muss Symbole benutzen, weil ich weder lesen noch schreiben kann. Buchstaben haben für mich keinerlei Bedeutung, seitdem ich ins Leben zurückgekehrt bin. Fortan werden Bilder mein Dasein bestimmen: Ich werde sie leben und atmen, indem ich ihre Sprache lerne. Meinen Eltern wurde gesagt, sie sollten eine Mappe mit Wörtern und den entsprechenden Symbolen für mich zusammenstellen. ›Hallo‹ ist ein Bild mit einem Strichmännchen, das mit der Hand winkt, ›mögen‹ ist ein großer Mund mit einem breiten Grinsen, ›Danke!‹ ist das Bild eines ovalen Gesichts und zwei Händen, die flach auf das Kinn gelegt werden.
Sobald Mam und Dad alle Seiten fertig haben, die den Menschen mitteilen, wie ich heiße und wo ich wohne, dass man mir meinen Pullover anziehen soll oder dass ich aus der Sonne geschoben werden möchte, können sie diese in die Mappe einfügen. Dann können die Leute, mit denen ich mich unterhalte, langsam die Seiten umblättern, und ich starre besonders intensiv auf das Symbol, das ich meine. Wenn ich meinen Eltern mitteilen muss, dass das Essen zu heiß, kalt oder fade ist, kann ich auf eines der laminierten DIN - A 4-Blätter starren, die sie an mein Platzdeckchen geheftet haben, wie ihnen empfohlen wurde.
Natürlich hat niemand auch nur die geringste Ahnung, wie viel ich von all dem verstehe, da sie noch nie den Versuch unternommen haben, dergleichen mit mir auszuprobieren. Während meiner Untersuchung zeigte ich in dem Test, dass ich simple
Weitere Kostenlose Bücher