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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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ich allein gelassen werde.
    Gewöhnlich versuche ich gerade, Radio zu hören, wenn jemand auftaucht und mich mit einem Lächeln stört. Natürlich weiß ich, dass es nett gemeint ist, doch ich bin der Älteste hier, und die Aktivitäten sind auf sehr viel jüngere Kinder zugeschnitten. Niemand scheint in Betracht zu ziehen, dass auch Menschen, die man für geistig gehandicapt hält, sich ändern können, wenn sie älter werden.
    Ungeachtet all dessen weiß ich aus Erfahrung, dass ›Alpha and Omega‹ ein weitaus besseres Pflegeheim ist als viele andere. Im Laufe der Jahre habe ich oft Leute schockiert über Dinge flüstern hören, die sie in anderen Einrichtungen gesehen haben. Sie sind zu Recht schockiert. Auch ich habe erschreckende Dinge erlebt: Wenn mein Vater auf Geschäftsreise war, wurde ich in andere Heime geschickt, weil meine Mutter sich nicht zutraute, mich alleine zu versorgen, oder wenn meine Familie Urlaub machte, da sie eine Erholungspause in der Fürsorge für mich brauchte.
    Jedes Mal, wenn ich dort abgeliefert wurde, hatte ich furchtbare Angst, man würde mich nicht mehr nach Hause holen; und meine Angst wuchs von Tag zu Tag, bis sie übermächtig wurde. An dem Tag, an dem ich abgeholt werden sollte, erschien mir jede Minute wie ein Jahr, während ich darauf wartete, endlich die vertrauten Stimmen meiner Eltern zu hören. Meine größte Furcht ist, dass man mich in eine dieser Einrichtungen einsperrt, in denen Kinder wie ich den ganzen Tag ohne jede Anregung herumsitzen. Das wäre die schlimmste Form eines Todes bei lebendigem Leibe.
    Daher bin ich dem hiesigen Personal dankbar, denn die Leute versuchen wenigstens, unserem Leben eine gewisse Struktur zu geben, und es ist gewiss nicht jedermanns Sache, in einer Umgebung wie dieser zu arbeiten. Ich habe die Übersicht verloren, wie viele Pfleger und Pflegerinnen ich im Laufe der Jahre habe kommen und gehen sehen. Manche verschwinden fast so schnell, wie sie gekommen sind, und ich habe gelernt, den Blick nahezu rebellierender Verwirrung zu deuten, bevor ihnen selbst überhaupt bewusst wird, was sie fühlen. Ich verstehe. Manche Leute sind verstört von etwas, das sie nicht fassen können. Es ist ihnen unangenehm, den entstellten Gesichtsausdruck eines Kindes mit Downsyndrom zu sehen, die verdrehten Gliedmaßen eines Menschen mit zerebraler Kinderlähmung oder das blicklose Starren eines Kleinkinds mit Gehirnschaden.
    Doch neben all den Leuten, die es nicht aushalten, sich um diese Kinder zu kümmern, gibt es andere, für die diese Arbeit eine Berufung ist. An erster Stelle muss ich Rina nennen, die Heimleiterin. Sie hat ein rundes, freundliches Gesicht, und sie erteilte mir eine meiner ersten Lehren über jene Menschen, die mich versorgen.
    Vor Jahren, als Rina noch nicht als Leiterin, sondern als Lehrerin fungierte, empfand sie große Zuneigung für ein kleines Mädchen namens Sally, das mit zerebraler Kinderlähmung geboren wurde. Rina vergötterte Sally: Sie fütterte sie mit einer speziellen Kürbissorte, die Sally besonders liebte, wiegte sie in ihren Armen und spielte Musik, die sie immer zum Lachen brachte. Rina war dem kleinen Mädchen tatsächlich so nahe, dass sie nachts im Krankenhaus war, als Sally im Alter von sechs Jahren an Lungenentzündung starb.
    Danach verschwand ein Teil des Glanzes in Rinas Augen, und zu sehen, wie bitterlich sie um Sally trauerte, lehrte mich, dass Kinder wie ich selbst weit mehr sein können als nur ein Job. Dies war ein tröstlicher Gedanke, den ich über die Jahre hinweg mit mir herumtragen konnte, und ich erinnerte mich immer daran, wenn ich Menschen begegnete, die mich gerade mal etwas besser behandelten als ein geschlachtetes Suppenhuhn, das in den Kochtopf gehört. Kein Fitzelchen menschlicher Wärme bringt deren frostige Professionalität zum Schmelzen. Sie schleppen einen herum wie einen Sack Kartoffeln, waschen einen gedankenlos und flott mit eiskaltem Wasser, wischen einem immer Seife in die Augen, auch wenn man sie noch so fest zukneift, und dann stopfen sie Essen in einen hinein, das entweder zu kalt oder zu heiß ist. Dabei verlieren sie die ganze Zeit über kein einziges Wort, und aus Angst, ein Mensch könnte ihren Blick mit einem Starren erwidern, wagen sie nicht zu lächeln.
    Noch schlimmer allerdings sind sogenannte Pfleger, deren Gefühllosigkeit sich weit persönlicher äußert. Ich wurde schon als »Hindernis«, »Dummkopf« und »Müll« bezeichnet, und zwar durch Leute, die sich einbilden,

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