Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Jahre arrangiert. Ein gutes Stück, vermutlich ein viel Größeres, als ich wahrhaben möchte, habe ich die Geschichten, so wie meine Mutter sie weitergab, für mich an- und diesen erzählten Jungen in mir aufgenommen. All diese Geschichten kann meine Mutter nun nicht mehr erzählen. Allerdings sind sie nicht ganz verschwunden. Sie leben in meinen Erinnerungen weiter. Und manchmal, wenn meine Tochter danach fragt, erzähle ich die Erzählungen so, wie ich sie erinnere. Das kann mühsam sein, und meine Mutter fehlt mir dabei. Andererseits gewinne ich damit die Hoheit über meine Geschichte zurück – zumindest solange mein älterer Bruder nicht in größerer Runde doch noch zur allgemeinen Erheiterung das ein oder andere hervorkramt.
Die Geschichten von den manchmal recht harten Auseinandersetzungen, die es insbesondere während der Pubertät zwischen meiner Mutter und mir gegeben hat und die für mich und mein Leben nicht minder entscheidend waren, wurden nie erzählt. Der gemeinsamen Aufarbeitung dieser Geschichten sind meine Mutter und ich ausgewichen. Jetzt ist es dafür zu spät.
Und was ist, wenn ich mich selbst an all diese Geschichten nicht mehr erinnern kann? Wenn es mir mal so gehen sollte, wie es meiner Mutter jetzt geht? Auf die Frage, wer ich bin – und diese Frage ist entgegen allem, was ich lange geglaubt habe, kein Privileg der Pubertät –, drehen sich meine Antworten, von ein paar äußeren Beschreibungen abgesehen, um Erzählungen aus meinem Leben. Erzählungen, aus denen sich eine Geschichte, das heißt meine Lebensgeschichte ergibt. So wie laut dem US -amerikanischen Psychologen John Kotre »Geschichten aus einem Leben zur Geschichte des Lebens werden«.
Da ich aber weder eine Autobiografie geschrieben habe noch Tagebuch schreibe, beruhen diese Erzählungen auf meinen Erinnerungen. Pohl, in dessen Buch ich das Zitat von Kotre fand, fasste es so zusammen: »Wir sind, was wir erinnern, und wir erinnern, was wir sind. Das entspricht der direkten Wechselwirkung zwischen dem autobiografischen Gedächtnis und dem Selbst.« Womit ich wieder bei dem Problem wäre. Pohl sagte mir im Gespräch, dass mit dem Vergessen »irgendwann auch die Identität verloren geht«. Bedeutet also keine Erinnerung auch keine Identität? »Ich habe mich selbst verloren«, berichtete Auguste Deter gegenüber Alois Alzheimer.
Kann man »sich verlieren«? Und »verliert« meine Mutter sich gerade? Und was bedeutet es, wenn man »sich verloren« hat?
»Wir sind die Geschichten, die wir über uns zu erzählen vermögen.«
Der Soziologe Heinz Abels
Bei meinen Recherchen stoße ich auf ein Lehrbuch des Soziologieprofessors Heinz Abels. Es trägt den Titel Identität und lässt sich, für einen Laien wie mich nicht ganz unwichtig, gut lesen. Im Sattel der Sozialwissenschaften unternimmt Abels darin einen langen und höchst interessanten Ritt durch die überraschend weite Welt der Identitätstheorien. Und wie es der Zufall will, lehrte der mittlerweile emeritierte Abels an der Fernuniversität Hagen, wo meine Mutter einige Jahre als Sekretärin gearbeitet hat.
Etwa in der Mitte des Buches ringt sich Abels zu einer eigenen Definition des Begriffs der Identität durch:
»Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.«
Was mich interessiert, ist das »Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein« und eben die Frage, was es bedeutet, wenn es, wie bei meiner Mutter, um das Bewusstsein für die eigene Lebensgeschichte nicht zum Besten steht. In einem anderen Buch, dem zweiten Band seiner Einführung in die Soziologie mit dem Untertitel Die Individuen in ihrer Gesellschaft betont Abels diesen Aspekt noch deutlicher:»In Hinsicht auf die Entwicklung des Individuums heißt Identität, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einer sinnvollen Ordnung zu halten und die Zukunft planvoll anzugehen. Insofern kann man Identität gleichsetzen mit dem Wissen um die eigene Biografie.«
Auch wenn Abels in diesem Zusammenhang nicht auf die Problematik der Demenz eingeht, weil sie nicht zu seinem Fachgebiet gehört, klingt das für die Identität meiner Mutter alles andere als gut. Ich schicke Abels eine Mail, erkläre ihm meine Situation, deute ein paar
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