Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Konzentration auf eine Eliminierung der Demenz. Auch Hartmut Remmers sprach davon. Gesucht werde mit immensem Aufwand »die Pille, die alles wegmacht«. Eine qualifizierte, fürsorgende Begleitung werde demgegenüber eklatant vernachlässigt.
– Probleme sollen möglichst instrumentell technisch gelöst werden. Das ist leichter, als sich mit den Sorgen und Ängsten einer alternden Gesellschaft auseinanderzusetzen. Auf so eine Lösung hofft man auch bei der Demenz, wenn man nur lang genug forscht. Meine persönliche Auffassung ist, dass das genauso scheitern wird wie vergleichbare Lösungsmodelle für unsere Umweltprobleme.
– Haben Sie Angst, dement zu werden?
– Nein, habe ich nicht. Ich glaub aber auch nicht, dass man da viel gegen tun kann. Zumindest nicht mehr, als das Leben zu genießen und es ernst zu nehmen, vielleicht ein paar Neurosen abbauen, grundsätzlich eher gesund leben und den Humor bewahren. Ich hoffe, dass ich das einigermaßen gelassen akzeptieren kann, dass ich sagen kann: »So, jetzt ist es so weit, du hast dich dein Leben lang damit beschäftigt, jetzt wirst du diesen Weg gehen.« Mal sehen, was dann passiert.
Erinnerungen X
»Wenn ich über meine frühere Zeit nachdenke, gibt es schon ein paar Sachen, die ich meinen Eltern oder auch meiner Mutter vorwerfen muss. Dass wir ein Kind kriegten, haben die mir nie gesagt. Also, die hätten ja sagen können: ›Ingridchen, du kriegst ein Brüderchen oder ein Schwesterchen‹ oder so. Aber das wurde nie gesagt. Irgendwann habe ich das natürlich gesehen und gemerkt. Aber das ging alles so stillschweigend bis: ›Jetzt hast du ein Brüderchen, und jetzt ist gut! Brauchst nicht nachzufragen, wie das gekommen ist und wie das gemacht worden ist und wie das entstanden ist. Du hast das jetzt und fertig!‹«
»Wurdest du nicht aufgeklärt?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Und wie hast du das dann erfahren?«
»Na, durch die Lebensmittelkarte. Da stand drauf ›Für Schwangere‹. Schwangere kriegten ja Zulagen. Da habe ich das dann gemerkt. Und als hinterher Günther kam, das war ja 47, das war eine ganz schlechte Zeit. Da haben die Kinder bei mir in der Schule gesagt ›Eh, deine Mama kriegt ein Kind!‹ Ich weiß gar nicht, ob ich das da schon wusste. Das fand ich nicht so gut. Das hätten meine Eltern schon besser machen können. Aber meine Mutter hat nie die kleinen Jungs bevorzugt. Das hat sie nie gemacht.«
»In der Schule war das auch kein Thema?«
»Nein! Da wurde von den Bienen gesprochen vielleicht. Das hat vielleicht auch mit dem Krieg zu tun. Die Schule hatte ja dadurch auch sehr gelitten. Viele Dinge hatten wir gar nicht gelernt. Geografisch bin ich ja so unterbelichtet, das darf man ja niemandem sagen. Ich weiß zwar, dass München im Süden ist und Berlin im Osten. Aber die Ver bindungen … Wenn ich mir das nicht anguckte, wüsste ich das nicht. Das ist einfach so auf der Strecke geblieben. Es waren ja auch wenig Lehrer da, die waren ja im Krieg.«
Hat meine Mutter sich verloren?
Meine Mutter sitzt schlafend im Aufenthaltsraum. Ein friedliches Bild. Ich hocke mich neben sie, streichle ihren Arm. Nach zwei oder drei Minuten öffnet sie die Augen. Ein interessierter Blick aus einer anderen Welt. Ich lächle, sie lächelt zurück und mustert mich. Ich stelle mir ihr Gehirn vor, wie es versucht, das Bild, das sie gerade sieht, mit Erinnerungen zu verknüpfen. Wie ein Bote mit einem Foto von mir unter dem Arm durch einen langen, dunklen Tunnel rennt, auf der Suche nach einem irgendwie ähnlichen Foto und der dazu passenden Geschichte oder vielleicht sogar vielen dazu passenden Geschichten. Der Bote sieht in meiner Vorstellung ein bisschen so aus wie Harrison Ford als Indiana Jones in einem stillgelegten Bergwerk. Manchmal hält er kurz an, vergleicht das Bild unter seinem Arm mit Bildern, die in dem Tunnel hängen. Da es aber zu wenig Ähnlichkeiten gibt, hetzt er gleich weiter.
– Guten Morgen, weißt du, wer ich bin?
Meine Mutter lächelt unsicher, und der Typ mit meinem Foto gibt noch mal richtig Gas. Und wie in einem Indiana-Jones -Film muss er immer wieder über Gräben springen, was nur knapp gelingt, oder er gerät an Abgründe, an denen nur noch die Reste einer Brücke zu erkennen sind, dann muss er einen Umweg nehmen. Manche Abzweigungen in dem Höhlenlabyrinth sind auch ganz offensichtlich verschüttet.
– Mama … Wer bin ich?
Meine Mutter lächelt immer noch, und der Indiana Jones ihrer Erinnerungen erreicht
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