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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Nicht mehr. Und ich bin auch nicht mehr um eine Antwort auf solche Frage verlegen.
    – Der ist wohl unterwegs.
    – Wie immer.
    Im digitalen Bilderrahmen taucht ein Foto von ihr und Mascha auf.
    – Wer ist das?
    – Das ist meine Nachbarin …
    Sie zeigt auf sich selbst, dann auf das kleine Mädchen, ihre Enkelin.
    – … und … und das … absolut süß, die Kleine.
    – Die Frau sieht dir ähnlich, Mama.
    – Meinst du?
    – Und das da könnte auch Mascha sein.
    – Ach, jetzt ist aber gut. Solche Märchen brauchst du mir nicht zu erzählen.
    Die Krankengymnastin kommt. Eine sympathische Frau, ihre Ansprache ist klar und freundlich. Professionalität und Herzensbildung ergänzen sich wunderbar.
    Ich darf zuschauen. Sie gehen gemeinsam über den Gang. Das klappt gut. Meine Mutter soll sich auf die Zehenspitzen stellen, was sie tatsächlich schafft! Das hätte ich ihr nicht mehr zugetraut. Ich bin freudig überrascht und auch ein wenig beschämt. Im Zimmer soll sie dann eine der Wolldecken falten. Je feiner die Herausforderungen an ihre Motorik, desto größer die Schwierigkeiten meiner Mutter. Danach erlebe ich, dass sie, bleibt man geduldig, die Schuhe durchaus auch selbst ausziehen kann. Im Heimalltag fehlt dazu die Zeit. Früher, sagt die Krankengymnastin, sind die Pflegerinnen bei den Übungen immer dabei gewesen. Heute ist das nicht mehr möglich. Nach kleinen Anlaufschwierigkeiten streckt meine Mutter, im Sessel sitzend, die Beine ganz von selbst aus, zieht sie wieder an, schwingt die Arme sogar in unterschiedliche Richtungen. Ihr stolzes Lächeln rührt mich ungemein. Ich muss lachen. Sie klatscht in die Hände. Nach einer guten halben Stunde ist meine Mutter müde. Sie schläft ein.
    Beim Abschied erzählt mir die Krankengymnastin von einem Mann Mitte sechzig aus ihrem Bekanntenkreis, der seine Freunde schriftlich über seine Alzheimer-Diagnose informiert hat. »Ihr habt sicher schon die Veränderungen bemerkt.« Schließlich der Hinweis: »Ich will keine Einzelgespräche.« Ich frage nicht weiter nach.
    Mein Bruder wird in ein paar Wochen fünfzig. Er plant ein Essen mit der Familie in einem Restaurant. Dass unsere Mutter bei unseren Überlegungen keine Rolle spielt, fällt uns erst spät, aber immerhin noch rechtzeitig auf. Ich erschrecke darüber, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, sie in solche Planungen miteinzubeziehen. Warum, frage ich mich? Aus Sorge, sie zu überfordern, oder aus Sorge, uns zu überfordern? Ihre Motorik beim Essen hat mittlerweile sehr viel von ihrer alten Eleganz verloren. Wie wird es sein, meine Mutter den Blicken anderer Restaurantbesucher auszusetzen? Aber natürlich kommt sie mit. Wir schämen uns, dass das überhaupt eine Frage war. Als ich sie dann abhole, freut sie sich, mich zu sehen, ist aber auch ein wenig überrascht.
    – Jetzt hätte ich dich fast nicht wiedererkannt.
    Ich verzichte darauf zu fragen, wen sie denn jetzt in mir erkannt hat, und weiß nicht, ob ich ihr damit eine Peinlichkeit oder mir eine Enttäuschung ersparen will.
    Sie trägt ihr schickstes Kleid und sieht sehr hübsch aus. Ansonsten ist sie recht reserviert und ziemlich durcheinander. Hin und wieder spricht sie meinen Vater an, der allerdings in seinem Rollstuhl am entgegengesetzten Ende des Tisches sitzt und sie nicht versteht, was wiederum meine Mutter wundert. Dafür lächelt sie ausgesprochen glücklich, als sie Mascha neben sich wahrnimmt. Beide kuscheln miteinander. Nach zwei Stunden ist meine Mutter erschöpft. Wir bringen sie zurück in ihr Heim. Die Pflegerinnen erzählen uns später, sie habe den ganzen restlichen Tag gestrahlt.
    Die Beziehung zu meiner Mutter ist die längste Beziehung meines Lebens. Sie ist voller Erinnerungen. Erinnerungen, die über die Jahre immer und immer wieder erzählt und gern gehört wurden. Pohl sprach von der Bedeutung dieser Gespräche.
    Wer neu in die Familie kam, Freundinnen etwa von meinem Bruder und von mir, bekam diese Geschichten irgendwann von meiner Mutter zu hören. Sie waren Eintrittskarten zur Familie. Manchmal war es mir peinlich,wenn ausgebreitet wurde, wie süß, wie ungeschickt oder wie frech ich als Kind gewesen sein soll. Und doch fühlte ich mich in diesen Geschichten meiner Mutter, die das Bild einer glücklichen Kindheit vermittelten, zu Hause.
    Obwohl ich mich in manchen dieser von meiner Mutter erzählten Kindheitserlebnisse nicht richtig wiedererkennen wollte, hatte ich mich mit dem beschriebenen Jungen über die

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