Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
kann, wie man ein Ereignis erzählt. Zwei faktentreue Beschreibungen derselben Realität können zu sehr unterschiedlichen Geschichten führen.
Abels trinkt einen Schluck Tee. Vieles, was nicht passt oder unangenehm ist, wird verdrängt, sagt er, und stellt klar, dass man diese Freiheit der Erinnerungen auf keinen Fall mit bewusster Hochstapelei verwechseln dürfe. Er zitiert Wilhelm Busch: »Wer ist schon so töricht, an die Wahrheit einer Biografie zu glauben?«
– Jede Autobiografie ist doch immer die Geschichte eines tollen Menschen. Aber das meine ich nicht. Ich meine den ganz normalen Menschen, der sich alltäglich seine Biografie zurechtlegen muss, damit sie zu ihm passt. Das geschieht vor allem unbewusst.
Man kann, sagt er, diesen Prozess aber auch konstruktiv nutzen. Schließlich ist die Identität zur Zukunft hin offen. Mit neuen Erfahrungen entwickelt sie sich weiter und kann auch im Nachhinein noch »modifiziert« werden, wenn bestimmte Erfahrungen, etwa in einer Psychotherapie, umgedeutet werden.
– Ich kann nicht ungeschehen machen, dass mich mein Lehrer mal runtergeputzt hat, aber ich kann es anders interpretieren. Die Wahrheit können wir ja nicht rückgängig machen, aber sie wird so umgeformt, dass sie in einem Licht erscheint, das zum Selbstbild passt. Von daher glauben die Leute auch tatsächlich daran, dass sie »nie bei den Nazis mitgemacht« haben, und wenn dann ein Mitgliederausweis auftaucht, sind sie überzeugt, dass da »alle mitmachen mussten« und dass sie »innerlich ganz anders dachten«.
In seinem Buch fasst Abels es so zusammen: »Erinnerung ist nachträgliche Bewertung einer biografischen Identität damals zum Zwecke einer Identität, wie wir sie heute brauchen.«
– Die Identität ist so konstruiert, dass man in einer Welt lebt, in der man sich zu Hause fühlt. Vielleicht ist es auch genau das, was Menschen mit Demenz brauchen. Nicht, dass man ihnen klarzumachen versucht, dass das »völliger Unsinn ist«, was sie glauben und erzählen, sondern dass man sie sogar eher behutsam bestätigt in ihrer Welt, wenn sie ihnen denn gut tut.
Grundsätzlich, so Abels, hat jeder Mensch eine Identität. Aber was ist mit diesem »sich verlieren«, von dem Auguste Deter, von dem auch Pohl und so viele andere sprachen und sprechen? Seine erste Antwort ist ein ernster Blick.
– Wenn ich an einen Punkt komme, wo ich auf die Frage »Wer bin ich eigentlich?« nicht mehr antworten kann, entweder weil ich schwer dement geworden bin oder die Vorstellungen einfach nicht mehr zusammenpassen, dann würde ich das tatsächlich als den Beginn des Verlierens der Identität bezeichnen.
Abels sieht mir wohl an, dass mich seine Antwort nicht unbedingt glücklich macht.
– Ein kleines Kind kann nicht »ich« sagen und sich von anderen abgrenzen und unterscheiden. Das braucht die Erfahrung, dass es auch »den Anderen« gibt. Das ist eine längere Entwicklung, die ohne Gedächtnis nicht möglich ist.
Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson spricht davon, dass man sich bis dahin »nur in einem ozeanischen Gefühl wahrnimmt«. Einem Gefühl, in dem ich nichts außer mir wahrgenommen habe. Aber ab dem Moment, wo ich etwas anderes, zum Beispiel die Stimme meiner Mutter, wahrnehme, beginnt das Gedächtnis: »Ich bin anders als die anderen, ich habe ein Bewusstsein und bin zu Wirkungen fähig.« So einfach, so Abels, funktionieren die ersten Phasen des Gedächtnisses.
– Allerdings halte ich es durchaus für möglich, dass man auch von einem seelischen und einem körperlichen Gedächtnis sprechen kann, dass sehr viel mehr in unser Gedächtnis eingeht, als wir uns das kognitiv bewusst machen können. Vielleicht spielen diese gefühlten Identitäten sogar eine größere Rolle als die bewusste und reflektierte Identität.
Eine »unbewusste Identität« klingt für mich mit Blick auf meine Mutter wie ein rettender Strohhalm.
– Ich glaube, dass man dann eigentlich nur hoffen kann, dass Menschen mit Demenz auch am Ende, wenn sie überhaupt noch was von sich annehmen können, also eine Mindestform von Bewusstsein ihrer selbst haben,dass sich dann immer temporäre Gefühle wie »Das bin ich«, »Das erleb ich jetzt« einstellen.
Das kann man, so Abels, dann durchaus als eine Art vorübergehende Identität begreifen, die eben nur für eine kurze Zeit besteht und auch wechseln und immer wieder neu entstehen kann, womöglich sogar ohne Spuren im Gedächtnis zu hinterlassen. Meiner Mutter
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