Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
gerade atemlos tief unten in diesem Gedächtnisbergwerk eine große Höhle mit einer langen Reihe von Schränken, vollgestopft mit Dokumenten und Fotos aller Art. Viele Schubladen sind aufgerissen, Papiere liegen in mehr oder weniger großen Schnipseln auf dem Boden verstreut. Und während meine Mutter noch weiter lächelt, kriecht dieser Erinnerungssucher atemlos über den staubigen Boden, greift hier und da nach einzelnen Papierresten, versucht, sie zusammenzulegen, vergleicht immer wieder hektisch mit meinem Foto, fängt an, etwas zusammenzupuzzeln und …
– Jörn Klare.
Sagt meine Mutter. Sie lächelt ein wenig stolz, und Indiana Jones sackt völlig erschöpft in sich zusammen.
– Und du? Wer bist du?
– Ingrid Klare.
Das war leicht, dafür musste der Mann in der Höhle noch nicht einmal aufstehen.
Meine Mutter ist um die Hüften etwas breiter geworden. Das liegt nicht am Essen. Sie trägt da jetzt kleine Polster, sogenannte Hüftprotektoren, die vor Sturzverletzungen schützen sollen. Genau an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag kam dazu auch noch ein Brief vom Amtsgericht Münster, der uns den ab »sofort wirksamen« Beschluss mitteilte, dass »die zeitweise Beschränkung der Freiheit der Betroffenen betreuungstechnisch genehmigt« wird, »soweit dazu eingesetzt werden: am Tage und in der Nacht während der Bettruhezeiten Bettgitter«. Die Gründe: »Es besteht die Gefahr der Selbstschädigung dadurch, dass die Betroffene unbeaufsichtigt das Bett oder den Sitzplatz verlässt und sich im Zustand der Verwirrtheit durch unvorhersehbares selbstgefährdendes Verhalten verletzt.«
Die Heimleitung hatte meinen Bruder und mich darum gebeten, ihr zu genehmigen, den entsprechenden Antrag zu stellen. Wir haben zugestimmt, weil uns die Gefahr bewusst war, dass meine Mutter desorientiert und motorisch überfordert aus dem Bett stürzen könnte, weil uns klar ist, dass nicht immer jemand neben ihr sitzen kann und unsere Mutter auch nicht auf dem Boden schlafen soll.
In der Woche zuvor war meine Frau zu Besuch. Die Begegnung war nicht ganz unproblematisch. Meine Frau versuchte, meine Mutter zum Malen oder Klavierspielen zu bewegen. Die hatte aber keine Lust, fühlte sich irgendwann bedrängt und wurde ärgerlich. Obwohl mich die Spannungen betrüben, freue ich mich über ihren Selbstbehauptungswillen. Abgesehen davon, hat sie berichtet, dass sie ihr Studium nun beendet hat und sich fragt, was sie damit anfangen soll.
Sie richtet sich auf in ihrem Stuhl.
– Wie geht es dir?
– Gut.
– Hast du einen Wunsch?
– Nein.
– Was macht dein Gedächtnis, deine Erinnerungen?
Sie lächelt, als hätte ich sie gefragt, ob sie mir mal die Marmelade reichen könne.
– Ach … Weiß ich nicht … Das schalte ich ein und das schalte ich aus.
– Du schaltest dein Gedächtnis aus und ein?
– Ja. Man muss ja auch was löschen können.
– Löschst du Erinnerungen?
– Manchmal.
Ich muss an einen Satz von Igor Strawinsky denken: »Ich kann wirklich nicht sagen, was schöner ist: Das Vergessen oder das Erinnern.« Mit welcher Souveränität meine Mutter das Vergessen jetzt selbst in die Hand zu nehmen glaubt, beeindruckt mich. Ich nehme ihre Hand und streichle sie.
Eine kleine ältere Dame rollt in ihrem Stuhl vorbei und zwinkert meiner Mutter immer wieder verschmitzt zu.
– Die ist auch schnuckelig.
Meine Mutter flüstert konspirativ.
– Schnuckelig? Was glaubst du, wie alt sie ist?
– Höchstens zweite Klasse.
Wir schweigen. Hin und wieder drücke ich ihre Hand etwasfester. Sie drückt dann zurück. Eine friedliche Stimmung. Gelegentlich eilt eine freundlich lächelnde Pflegerin vorbei, eine Bewohnerin schiebt ihren Rollator durch den Raum. Von irgendwoher dringt Klaviermusik.
Wir gehen in ihr Zimmer, setzen uns dort an den Tisch.
– Was denkst du?
Meine Mutter starrt vor sich hin.
– Ich lese hier so die Überschrift zu einem Bild.
Sie streicht über einen Teller.
– Was liest du?
– Wörter, die zu den Buchstaben passen.
Gern sehe ich in solchen Aussagen einen höheren Sinn, ahne aber, dass, wie Förstl es erklärte, da wohl auch eine Art Zufallsgenerator vermeintlich Sinnverwandtes neu zusammenwürfelt, Kontexte an- und aufreißt und die Scherben beliebig neu zusammensetzt.
– Geht es dir gut?
– Ja.
– Wünschst du dir mehr Besuch?
– Nein. Nur, dass mit euch alles gut geht.
Schweigen. Sie schaut sich um.
– Wo ist Jörn denn?
Ich bin nicht beleidigt.
Weitere Kostenlose Bücher