Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
würde ich das zutrauen.
– Das wäre dann eine »gefühlte Identität«, die nicht auf einem reflektierten Bewusstsein, sondern auf dem Gefühl beruht, das ich zu mir habe?
– Ja, das kennen wir von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das sind gefühlte Identitäten, und ein angenehmes Körpergefühl lässt sich auch über eine Berührung vermitteln, wie es zwischen Müttern und kleinen Kindern passiert. Uns Erwachsenen ist das weitgehend abhanden gekommen.
Ich hoffe, dass die »temporären Identitäten«, von denen Abels spricht, für meine Mutter schön oder zumindest erträglich sind.
– Dieses »ozeanische Gefühl«, von dem Erikson spricht, dieser Zustand, bevor sich das Gefühl der Differenz zur Umwelt entwickelt, dieser Zustand, bevor es ein Gedächtnis und eine Identität gibt … Klingt doch auch schön, oder?
Abels nickt.
– Ja, ich denke auch, dass das ein wunderbares Gefühl ist. Man lebt in sich selbst und nimmt nichts anderes wahr als ein totales Wohlgefühl. In diesem Ozean der Gefühle geht man völlig auf.
– Und dann wird man gezwungen, eine Identität zu haben.
– Und dann kommt der andere hinzu, und mit dem muss man sich auseinandersetzen. Das kann ja angenehm sein, eine Bestätigung durch die liebevolle Mutter etwa. Aber irgendwann beginnt eine härtere, fordernde Realität, mit der muss ich mich dann auch auseinandersetzen. Und dann werde ich aus diesem paradiesischen Zustand vertrieben und muss mir die Schuhe selbst zubinden können und dann muss ich zur Schule gehen und dann muss ich von meinen Süßigkeiten was abgeben …
Das alles, ich erinnere mich gut, war anstrengend. Und ist es bis heute. Bei all den unterschiedlichen und sich häufig widersprechenden Erwartungen erlebe ich es durchaus immer wieder auch als Herausforderung, ein »Ich« zu sein. Ich würde allerdings nicht gleich so weit gehen wie der französische Soziologe Alain Ehrenberg, der in Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart schreibt: »Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst sein zu müssen.«
Interessant ist für mich, wie der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth im Vorwort Ehrenbergs Zeitdiagnose zusammenfasst: »[D]arin wird die rapide Zunahme von depressiven Erkrankungen als das paradoxe Resultat eines sozialen Individualisierungsprozesses gedeutet, der die Subjekte dadurch, dass er sie aus traditionellen Bindungen und Abhängigkeiten befreit, im wachsenden Maße daran scheitern lässt, aus eigenen Antrieben und in vollkommener Selbstverantwortung zu psychischer Stabilität sowie sozialem Ansehen zu gelangen.«
Meine Mutter hatte meinen Vater nach vierzig Jahren verlassen, um mit einem anderen Mann ein neues oder zumindest anderes Leben zu beginnen. Das war, auch wenn ich mir wünsche, es wäre anders gelaufen, ein mutiger Schritt, den ihr sicher niemand zugetraut hatte. Doch dieser Schritt kostete sie viel Kraft und hinterließ bei ihr selbst bis zuletzt immer wieder auch Zweifel. Ebenso wenig passte er in ihre bisherige autobiografische »Erzählung«. Und als Egon immer schwerer krank wurde und meine Mutter sich immer größere Sorgen um ihre Zukunft machte, musste sie erkennen, dass es kein Zurück in die alte soziale Sicherheit gab. Sie hatte, das war klar, Angst und sie war erschöpft.
– Ist es möglich, dass ein Mensch mit Demenz, also auch meine Mutter, wieder in dieses Ozeanische zurückgeht, wenn er nicht mehr in der Lage ist, eine Identität zu behaupten?
– Man kann nur hoffen, dass diese vorübergehenden Bilder, die sie dann für sich empfindet, positive Bilder sind. Das könnte diesem ozeanischen Gefühl schon entsprechen. Wir können nicht ausschließen, dass dieser Ozean doch wieder einer Auflösung des Ich gleichkommt. Da gibt es kein festes Ich, nicht einmal ein Bewusstsein davon, sondern nur einen Zustand der Auflösung. Man ist total eins mit dem ganzen riesigen Meer. Das ist doch auch wieder ein schönes Gefühl – eine Ganzheit, die man sich sonst nicht vorstellen kann.
Der Gedanke, am Ende diesen beschriebenen Urzustand zu erreichen, die Auflösung der Identität als Befreiung von einem Ich-sein-Müssen begreifen zu können, fasziniert mich. Abels verweist auf Berichte über Drogenerfahrungen, nicht ohne zu betonen, dass er persönlich da keine Erlebnisse vorweisen könne. In diesen Berichten gebe es durchaus Hymnen auf die totale Selbstauflösung, das »eins werden mit der
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