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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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meiner Fragen an und bitte ihn um ein Treffen. Er sagt zu und schlägt ein Café am Markt in Münster, wo er wohnt, vor.
    – Jedes Individuum hat seine Individualität – das ist die Art und Weise, wie ich mich von anderen unterscheide.
    Abels ist Ende sechzig, trägt einen weißen, gestutzten Vollbart und macht einen entspannten Eindruck. Ich habe ihn gebeten, mir bei der Verwirrung mit den Begriffen »Individuum«, »Individualität« und »Identität« zu helfen.
    – Identität ist das, was ich von mir selbst annehme, was ich bin und wie ich geworden bin und wie ich hoffe, dass mich auch die anderen wahrnehmen. Sie ist vor allem eine Konstruktion, die ich in meinem Leben immer wieder herstelle, indem ich mir sage, so bin ich geworden und so bin ich heute.
    Das Wort »Identität« kommt vom Lateinischen »idem ens«, was »derselbe seiend« bedeutet. Grundlegend, so Abels, ist es der Anspruch des Menschen, erstens ein Individuum zu sein, zweitens eine Individualität auszubilden und zu zeigen sowie drittens , in seiner Identität anerkannt zu werden.
    Abels kann sich für viele der sich zum Teil ergänzenden, zum Teil aber gegenüberstehenden Identitätstheorien begeistern. Zu seinen Favoriten zählt der US -amerikanische Soziologe Erving Goffman.
    – Dieser Ansatz lebt von der Annahme, dass wir unser Selbst ständig auf einer Art Bühne präsentieren und uns dort um einen guten Eindruck bemühen. Eine Identität also, die vor allem von den anderen angenommen werden soll. Unser wahres Ich lassen wir dabei aber bevorzugt auf der dunklen Hinterbühne, wobei Goffman offenlässt, ob es so etwas wie eine Kernidentität überhaupt gibt. Letztlich ist das eine ständige Auseinandersetzung zwischen dem, was ich von mir annehme, und dem, was bei den anderen ankommt.
    Besonders dick habe ich in Abels Buch einen Satz des Heidelberger Kulturwissenschaftlers Jan Assmann unterstrichen: »Wir sind die Geschichten, die wir über uns zu erzählen vermögen.« Genau da liegt das Problem mit meiner Mutter.
    – Welche Geschichten sind dabei zugelassen?
    – Die Geschichten, von denen wir überzeugt sind. Und wenn ich damit akzeptiert werden will, müssen sie von den anderen anerkannt werden. Deswegen müssen es stimmige Geschichten sein, die in den Kontext passen.
    So gesehen, ist Identität immer auch Behauptung und Selbstentwurf. Es muss nicht alles »wahr« sein, es muss vor allem geglaubt werden. Erstens von mir, zweitens von meiner Umwelt. Aber was ist mit den nicht stimmenden Geschichten meiner Mutter, wenn sie beispielsweise ihr Heim als Hotel und sich und die anderen als dessen Gäste beschreibt?
    – Es kann auch darum gehen, sich selbst Geschichten zu erzählen, mit denen man leben kann, in denen man sich geborgen fühlt. Und wenn es bei Menschen mit Demenz in der Biografie große Löcher gibt, kann ich mir vorstellen, dass sie versuchen, diese Löcher mit einer Konstruktion zu überbrücken. Für den Betroffenen kann das absolut überzeugend sein, während ein Außenstehender denkt: »Das ist doch nicht möglich, die muss doch merken, dass das nicht stimmt!«
    Ja, das kenne ich. Aber wenn ich die Geschichten bin, die ich von mir erzähle, kann doch meine Mutter die Geschichten sein, die sie von sich erzählt? Diese Geschichten sind vielleicht etwas weniger elegant formuliert und brüchiger, aber meine Mutter glaubt an sie. Mir wird klar, was es bei ihr auslöst, wenn ich ihre Geschichten ablehne. Es ist ein existenzieller Angriff auf ihren Selbstentwurf und damit auch auf ihre Identität. Genau so, als würde mir jemand meine Identität als Vater absprechen wollen.
    Abels lehnt sich zurück. Es gibt nicht die Identität, sondern immer nur eine Identität, sagt er.
    – Aber welche Rolle spielen da Erinnerungen?
    – Erinnerungen dienen als Unterfütterung für das, was ich heute bin. Wenn wir von Identität sprechen, ist das nur in der Vergangenheit möglich. Ich versuche herauszufinden, was mein Ist-Zustand, also meine jetzigen Hoffnungen, Ängste, Fantasien und Vorlieben, mit meiner Biografie zu tun hat. Und da liegt das Problem.
    – Welches Problem?
    – Meine Erinnerungen bilden ja nicht genau das ab, was gewesen ist. Das sind Erinnerungen, von denen ich glaube, dass es so gewesen ist. Und da bleibt es nicht aus, dass ich mir die Erinnerungen immer ein bisschen zurechtbiege, damit sie auch zu meinem heutigen Selbstbild passen.
    Als Journalist ist es mir nicht ganz fremd, dass es sehr entscheidend sein

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