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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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aufzuwärmen. Als Kind hatte sie ihre Hände oft versteckt, nicht um sie zu wärmen, sondern weil sie sich danach sehnte, dass sie so blass würden wie die ihres Bruders und ihrer Mutter. Erst in jüngster Zeit hatte sie das unerklärliche Phänomen akzeptiert, dass ihre Hautfarbe stets dunkler sein würde als die ihrer Familie.
    Die Fahrt nach London nahm fast den ganzen Tag in Anspruch. Währenddessen wurden im Mittelgang Thermoskannen mit Tee herumgereicht, und wer ohne Proviant gekommen
war, dem wurden Marmeladenbrote in Pergamentpapier angeboten. May hatte, seit sie das Schiff verlassen hatten, nichts gegessen und war dankbar, als ein älterer Herr ihr und Sam bedeutete, sich aus seinem eigenen Vorrat zu bedienen. Jedes Mal, wenn der Bus über ein Schlagloch in der Straße fuhr, hielt der Mann die Hand an den Mund.
    »Meine Zähne«, erklärte er. »Die neuen hier haben mich 'ne Stange Geld gekostet, und ich will nicht, dass sie auf den Boden purzeln. Womöglich finde ich sie nicht mehr.«
    Schließlich lullte das besänftigende Schaukeln des Busses die Fahrgäste in den Schlaf. Von Zeit zu Zeit hielt er im Busbahnhof einer Stadt an, setzte Passagiere ab und nahm neue auf. Zwei Mal stoppte er auf dem Vorplatz eines Gasthauses, wo sich vor der Tür zu den Damentoiletten eine Schlange schwatzender Frauen bildete, während die Männer pfeifend hinter dem Gebäude verschwanden. Jedes Mal, wenn der Bus anhielt, zuerst in Birkenhead, dann in Chester, danach in Whitchurch, wurde May von der ausbleibenden Bewegung aus ihrem Schlummer gerissen. Sie beobachtete die kleinen Atemwölkchen, die draußen einen Augenblick lang in der Luft hingen, wenn weitere Reisende nach London schnaufend den Bus bestiegen, sichtlich enttäuscht, dass die Körperwärme der vielen Menschen gegen die Kälte im Bus nur wenig ausrichten konnte.
    In Oxford, der letzten Haltestelle vor dem Ende der Zweihundert-Meilen-Fahrt nach London, stiegen May und Sam aus, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Der Fahrer hatte einen kaum noch glühenden Zigarettenstummel im Mundwinkel kleben, und die vorderen Bügelfalten an seinen Hosenbeinen waren zerdrückt. Er wirkte zerknittert und erschöpft, und die Jovialität, die er zu Beginn der Reise an den Tag gelegt hatte, war verflogen. Sam bot ihm eine Players aus seiner eigenen Schachtel an, und mit einem verlegenen Schulterzucken entschuldigte sich der Fahrer für sein zerzaustes Erscheinungsbild. Er gestand, dass ihm die Winteruniform immer noch lieber sei als das Som
mermodell. Das im Juli und August vorgeschriebene weiße Leinenjackett sei nie frei von Öl- und Rußflecken, und er grusele sich vor der Schmach, mit einem Eisverkäufer verwechselt zu werden.
    Eine fade Wasserfarbensonne ging unter, und in ihrem halb gespenstischen Licht standen die Männer draußen vor dem Bus und rauchten. May betrachtete den Horizont.
    »Matthew Arnold sagt: ›Und die liebliche Stadt mit ihren träumenden Türmen, sie braucht nicht den Juni, um ihre Schönheit zu mehren‹«, rezitierte Sam. »Das Gedicht habe ich in der Schule gelernt, aber ich habe nie geglaubt, den Ort irgendwann einmal mit eigenen Augen zu sehen.«
    May war von den dramatischen Konturen der Stadt und den Silhouetten der Gebäude mit ihren in romantischer Schönheit erglitzernden Turmspitzen wie verzaubert. Sie kam erst wieder ganz zu sich, als sie spürte, wie Sam ihre Hand nahm und in seinen Handschuh steckte, bevor er sie durch den Busbahnhof an der Victoria Station führte. Eine Linie der London General Omnibus Company setzte sie schließlich an der Bethnal Green Road ab. Die Nacht war hereingebrochen, und sie mussten ihre schweren Koffer durch die Dunkelheit schleppen. Sie verließen die geschäftige Hauptstraße und gelangten bald zu einer kurzen Zeile kleiner Backsteinhäuser, die an einen Park grenzten. Kinder schwangen an Seilen, die sie um die Gaslaternen gebunden hatten, und May musste auf die Fahrbahn treten, um nicht die mit Kreide aufgemalten Zahlenfelder eines Hickelkastens zu verwischen. In der gesamten Cyprus Street waren die schwarz gestrichenen hölzernen Fensterläden im Erdgeschoss aufgeklappt. Ein Arrangement farbenfroher Flaggen schmückte ein Stück der Mauer gegenüber dem Pub The Duke of Wellington, in die Ziegel war ein Gedenkstein eingelassen. Obwohl sie müde war, zog May ihren Bruder am Arm, um einen Moment stehenzubleiben und die Inschrift zu lesen:
     
    R.I.P.
    IN STILLEM GEDENKEN AN DIE MÄNNER
    DER CYPRUS

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