Als Mrs Simpson den König stahl
Abschiedskuss gegeben hatte, eignete sich hervorragend für das warme Klima der Karibik. Auf englische Kälte war May jedoch ganz und gar nicht vorbereitet. Sie hatte nicht nur gefroren, vielmehr hatte sie den Eindruck, als habe ihr Blut völlig aufgehört, durch ihren Körper zu fließen.
Eingehüllt in die wohlige Wärme des Bettes in Mrs Cages Haus, dachte May jetzt an die vergangenen Wochen zurück. Daheim konnte einen der helle Schein der Sonne mit einem Licht blenden, das so stark war, dass es durch die geschlossenen Lider drang. An jenem ersten Tag in Liverpool hingegen hatte ihr die Düsterkeit des frühen Morgens die Illusion gegeben, es breche schon die Nacht herein. Der Himmel hing so niedrig, dass er auf Pier Head herabzustürzen schien.
Von seinen früheren Reisen nach Liverpool kannte Sam sich auf dem Hafengelände aus. Er hatte die rechte Hand seiner Schwester in seinen Handschuh gesteckt, und so liefen sie Hand in Hand die Kaianlage entlang. Das graue Wasser, bis dahin die
einzige Landschaft, die sie gesehen hatten, war hinter dem eisigen Meeresnebel verschwunden, der über den Hafenmauern aufstieg. Der Weg wimmelte von Menschen, fast ausschließlich Männern, die sich alle in verschiedene Richtungen bewegten. Der Lärmpegel war fast genauso unerträglich wie die eiskalte Luft. Männer schoben Karren, die so gefährlich hoch mit Obst und Gemüse beladen waren, dass sie unberechenbar hin und her schwankten. Lagerarbeiter manövrierten Fahrräder mit riesigen Anhängern hin und her, auf denen sich Pappkartons stapelten, und gelegentlich drängte sich durch das Gewühl ein Privatauto, das wohl aufgrund der Wichtigkeit der menschlichen Fracht, die es abholen sollte, die Sondergenehmigung erlangt hatte, direkt am Wasser anzuhalten. May zupfte Sam am Ärmel, damit er stehenblieb. An der Hafenmauer parkte ein herrlich gepflegter dunkelblauer Rolls-Royce. Das Plantagenauto zurücklassen zu müssen, das sie so geliebt und das ihr Freiheit und Unabhängigkeit verschafft hatte, war ihr sehr schwer gefallen.
Einige mit Sam befreundete Matrosen, die vor ihrer Rückreise ein paar Tage Aufenthalt an Land vor sich hatten, waren in ausgelassener Stimmung und erzählten Witze, die eigentlich zu schlüpfrig waren, um sie in Gegenwart einer Frau zum Besten zu geben. Sie hatten May als eine der Ihren akzeptiert und sie während der Überfahrt lieb gewonnen. Nicht nur war sie selbst bei starkem Seegang unerschrocken, sie war zudem eine junge Frau von ungewöhnlich zarter Schönheit. Die Ration Rum, die bei der Einfahrt in den Hafen verteilt worden war, hatte in den jungen Männern ein ungestümes Wohlwollen ihr gegenüber ausgelöst, das jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit dem bedrohlichen und hartnäckigen Schweigen aufwies, das Duncans begehrliche Blicke begleitet hatte.
Zwei Mitglieder der Schiffsbesatzung boten sich an, ihnen beim Tragen ihrer wenigen Gepäckstücke zu helfen, und nun ging die kleine Gruppe die belebte, nebelverhangene Landungsbrücke entlang zum nahegelegenen Busbahnhof Pier Head. An
der Wand des Wartesaals hing der Fahrplan der Crosville Motor Services nach London, und in einer Ecke fauchte ein Gasofen vor sich hin, der sein Äußerstes tat, den beengten Raum zu erwärmen. Allmählich füllte sich der Wartesaal mit Menschen, die versuchten, ihre eiskalten Hände mit ihrem Atem zu wärmen. Als draußen, durch das schmierige Kondenswasser des einzigen Fensters gerade noch zu erkennen, der gedrungene grün-beige Bus vorfuhr, sammelten die Fahrgäste ihre Taschen und Koffer ein. In onkelhafter Laune baute sich der Busfahrer am Einstieg auf.
»Beeilung, meine Damen und Herren«, sagte er in die Menge. Er fasste May an der Armbeuge und geleitete sie die Stufen des Busses hinauf. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, meine Liebe.«
Einige der männlichen Passagiere salutierten beim Einsteigen, und der Fahrer erwiderte die Geste gespielter Ehrerbietung und tippte an seine Mütze, den elegantesten Teil seiner ansonsten abgetragenen Uniform. Etliche der Frauen um May herum hielten Thermoskannen umklammert und breiteten Wolldecken über ihre Knie. Unter ihren Kopftüchern lugten Lockenwickler hervor. Kurze Zeit später lenkte der Fahrer den Bus aus dem Bahnhof, und das große Lenkrad glitt so mühelos durch seine Finger, als ob keinerlei Anstrengung nötig wäre, das Riesenvehikel zu steuern.
May machte es sich auf dem gepolsterten Sitz bequem und schob ihre bloßen Hände unter die Oberschenkel, um sie
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