Als Mrs Simpson den König stahl
ohne Dach über dem Kopf und ohne unabhängiges Einkommen zurückgelassen. Und so hatte ihr Bruder Frank angeboten, sie bei sich und seiner Familie aufzunehmen. Evangelines Vater, ein wohlhabender Geschäftsmann, war so früh nach der Geburt seiner Tochter verstorben, dass Evangeline keine Erinnerungen an ihn hatte. Der korpulente Mann, der leidenschaftlich gerne aß und trank, hatte eines Tages nach dem Frühstück
einen Herzanfall erlitten, als Mrs Nettlefold gerade einen Einkaufsbummel unternahm. Nach Hause zurückgekehrt, fand sie die ausgestreckte, fast schon erkaltete Gestalt ihres Mannes auf dem Esszimmerboden; ein, zwei Meter von seinem rundlichen Gesicht entfernt lag ein Butterbrötchen – als habe er es in längst überfälliger Abscheu von sich geschleudert.
In all den Jahren danach hatte Evangeline als Gesellschafterin ihrer übellaunigen verwitweten Mutter herhalten und eine schier endlose Reihe an Verehrern erdulden müssen, in deren Augen die Gier nach Mrs Nettlefolds ererbtem Reichtum aufblitzte. Evangelines töchterliche Hingabe blieb jedoch unbelohnt. Mrs Nettlefold versäumte es nicht, die Aufmerksamkeit der Besucher auf Evangelines Leibesfülle zu lenken, und hatte ihrer vom Pech verfolgten jungfräulichen Tochter mit den großen Zähnen bereits früh zu verstehen gegeben, dass sie eine Enttäuschung für sie sei. Seit Evangeline zwölf Jahre alt war und ihre knospenden Brüste vom nahen Erwachsenenalter zeugten, hatte sie von dem Tag geträumt, an dem sie von der kritischen Allgegenwärtigkeit der Mutter befreit sein würde.
»Wie viele Male habe ich dir gesagt, dass du gerade sitzen sollst? Kein Mann will eine Bucklige heiraten«, pflegte Mrs Nettlefold zu sagen, während sie wie von Zauberhand von irgendwoher einen Bleistift hervorholte, mit dem sie Evangeline tief und schmerzhaft ins Kreuz stieß.
Einmal, als Evangeline bereits den ohnehin schwer verdaulichen Gemütszuständen der Pubertät ausgeliefert war, belauschte sie ihre Mutter, die am Telefon mit einer Freundin sprach. »Evangeline erinnert mich an einen Grabstein. Sie ist massig, grau und leblos. Manchmal wünsche ich mir, sie würde bereits unter der Erde liegen, bei all den Scherereien, die sie mir macht.«
Ein paar Tage später war Evangeline morgens aufgewacht und hatte festgestellt, dass ihr Kopfkissen mit Haaren übersät war. Als sie sich vorsichtig an den Kopf fasste, löste sich ein ganzes
Büschel ihrer blassbraunen Haare, als hätte sie Pusteblumen von der Wiese gepflückt.
»Hat Ihre Tochter in letzter Zeit einen Schock erlitten?«, fragte der Arzt Mrs Nettlefold.
»Nicht, dass ich wüsste, Herr Doktor«, erwiderte Mrs Nettlefold. »Sie führt das sorgenfreie Leben eines verhätschelten Kindes.«
Aber Evangeline hatte in der Tat einen Schock erlitten. Hätte man den Arzt dazu gedrängt, mögliche Ursachen für diesen Zustand zu benennen, hätte er vielleicht bestätigt, dass auch eine Lieblosigkeitserklärung einen schweren Schock hervorrufen kann. Aber der Arzt wurde nicht länger zu Rate gezogen, und die Haare auf Evangelines Kopf wuchsen nie wieder nach. In den folgenden Monaten zeigten die Freundinnen ihrer Mutter wenig Interesse daran, zu erfahren, warum Evangeline darauf bestand, stets einen Hut zu tragen. Stattdessen tuschelten sie selbst bei den Mahlzeiten darüber, dass eine so attraktive Mutter es nicht verdiene, ein so reizloses Kind zu haben. Für Evangeline wurden Kopfbedeckungen zur Leidenschaft. Und fortan fanden all jene Personen auf der Straße ihre besondere Beachtung, die sich mit einem Glockenhut oder einem Barett krönten.
Niemand wusste besser als Evangeline, dass Mrs Nettlefold sich betrogen fühlte. Wo war die lebhafte Eleganz, die Evangeline einen Platz in den Kolumnen der Gesellschaftsillustrierten garantiert hätte? Der Weltkrieg hatte das Leben so vieler heiratswilliger amerikanischer Junggesellen ausgelöscht, dass sich Mrs Nettlefold einer Gruppe gesellschaftlich ambitionierter und geldgieriger Mütter anschloss, die ihre unverheirateten Töchter über den Atlantik nach England eskortierten. Das Land war noch bis vor kurzem eine zuverlässige Quelle reicher und adliger junger Männer gewesen. Allerdings hatte die britische Oberschicht noch höhere Kriegsopfer zu beklagen. Und während die zweitgeborenen Söhne auf dem Basar für Ehemänner aus der
Oberschicht inzwischen als zweitbeste Lösung durchaus akzeptabel waren, hatten in verzweifelten Fällen sogar die Drittgeborenen genügen
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