Als Mrs Simpson den König stahl
Haus. Sie musste unbedingt ihre Gedanken ordnen. Vor der Abreise nach England hatte sie von ihrer
Mutter Edith ein in Baumwollstoff eingeschlagenes Tagebuch geschenkt bekommen. Und ein Tagebuch hatte Sir Philip bei seiner Aufzählung verbotener Mitwisser nicht erwähnt.
»Vergiss nicht, alles aufzuschreiben, Liebling«, hatte ihre Mutter gesagt. »Nichts ist wirklich passiert, solange du es nicht aufgeschrieben hast.«
May schrieb nicht jeden Tag. Manchmal gab es nicht viel zu berichten, manchmal hatte sie Angst, jemand könnte die Wahrheit lesen, wenn sie sie aufschrieb. Zudem konnte sogar der kürzeste Eintrag Erinnerungen an Vorfälle auslösen, die man besser dem Vergessen anheimfallen ließ. Ihre Mutter hatte recht. Sobald man etwas niederschrieb, wurde es Realität. Hielt sie dagegen einen Zwischenfall nicht in ihrem Tagebuch fest, konnte sie so tun, als habe er sich gar nicht ereignet.
Da ihr Bruder Sam seine Ausbildung beim Freiwilligen Seedienst bereits angetreten hatte und May sonst keinen Vertrauten hatte, mit dem sie sprechen durfte oder zu sprechen wagte, nahm sie jetzt das Tagebuch vom Regal neben ihrem Bett und hoffte, dass die Schreibübung ihren verwirrten Geisteszustand beruhigen würde.
»Ich führe dieses Tagebuch für dich, Mama«, begann sie, »obwohl es sich gut anfühlt, ein Tagebuch endlich für mich selbst zu haben, ohne darüber nachdenken zu müssen, was ich ihm anvertraue. Wusstest du, dass Dad schon seit Jahren mein Tagebuch liest? Ich habe es nie erwähnt, damit er seinen Ärger nicht an mir auslässt. Die letzten Wochen waren unvorhersehbar, aber ich bedauere es nicht, das Schiff nach England genommen zu haben. Außer natürlich, dass ich dich vermisse.«
Mays Mutter Edith war auf den Hebriden im Norden Schottlands zur Welt gekommen und in unfassbar elenden Umständen aufgewachsen. 1911, als sie gerade zwanzig war, beschloss sie, zusammen mit ihrer älteren Schwester Gladys in den Süden, nach Liverpool, zu gehen. Beide Mädchen hatten gehofft, Freiheit und Glück zu finden, als sie mit diesem Ziel vor Augen
eine Beschäftigung in der Küche eines transatlantischen Kreuzfahrtschiffes gesucht hatten. Zwei Monate später erreichten sie den Hafen Bridgetown in Barbados, und Edith war verzaubert von der üppigen Fruchtbarkeit der Insel. Die Landschaft bot einen faszinierenden Gegensatz zu der düsteren Schönheit der schottischen Moore. Nicht lange nach ihrer Ankunft lernte sie Duncan Thomas kennen, dessen Vorfahren ebenfalls aus Schottland stammten. Duncans Urgroßvater hatte mit seinem Torf- und Wollhandel nur wenig Geld verdient, und da er die Kälte und die Feuchtigkeit Schottlands verabscheute, war er in den 1850er Jahren in die Karibik ausgewandert. Dort hatte sich Mr Thomas als Besitzer einer kleinen Zuckerplantage ein vergleichsweise wohlhabendes Leben aufgebaut.
Zwei weitere Generationen folgten dem ersten Mr Thomas ins lukrative Zuckergeschäft, doch als der dritte Besitzer, Duncans Vater, an Malaria starb und der Weltzuckermarkt stagnierte, war die Plantage der Familie Thomas nicht mehr besonders einträglich. Duncan war Anfang zwanzig, als er das Familienunternehmen erbte und der hübschen jungen Frau begegnete, die kurz zuvor aus dem schottischen Hochland eingetroffen war. Der Charme der palmenbewachsenen Insel, die Verlockungen ihrer lauen Gewässer und die Aussicht auf finanzielle Sicherheit bewogen Edith, den Heiratsantrag eines Mannes zu akzeptieren, den sie kaum kannte.
Gladys, ihre temperamentvolle ältere Schwester, die den Kampf für das Frauenwahlrecht aufgenommen hatte, befand, dass das Leben auf einer Insel mit immerwährendem Sonnenschein nichts für sie war. Traurig über die Trennung von ihrer heißgeliebten Schwester und belastet durch die Aufgabe, ihren Eltern mitteilen zu müssen, dass sie ihre jüngste Tochter vermutlich nie mehr wiedersehen würden, kehrte sie nach England zurück. Dort heiratete sie kurze Zeit später Bob Castor, einen ehemaligen Bergarbeiter und schottischen Gewerkschafter. Ihr einziger Sohn Nathanial wurde in London geboren, kurz bevor
Edith in Barbados ihren Sohn Sam zur Welt brachte. Drei Jahre später wurde ihre Tochter May geboren.
Duncan war bei Kriegsausbruch in die britische Marine eingetreten, und bis auf einen kurzen Heimaturlaub kehrte er erst 1917 wieder auf die Insel zurück. Seine schweren Kriegsverletzungen hatten ihn für alle Zeiten untauglich für den Dienst an der Waffe gemacht.
Gladys wurde wegen ihrer
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