Als Mrs Simpson den König stahl
Geräusch der zurückgleitenden Glasscheibe zu hören, die die Passagiere vom Fahrer trennte. Von Mays erstem Arbeitstag an hatte das Fenster nicht richtig geschlossen, und obwohl sie erwogen hatte, es reparieren zu lassen, hatte sie es sich am Ende anders überlegt. Die kaum wahrnehmbare Lücke, durch die die privaten Gespräche an ihr Ohr drangen, war ein unerwarteter Bonus, auf den sie nicht verzichten wollte.
»Sie sind ja ein Mädchen!«, hatte Miss Nettlefold schließlich in ihrem melodisch singenden, unverkennbar amerikanischen Tonfall ausgerufen. »Sagen Sie mir, dass ich recht habe«, fügte sie hinzu und schmunzelte bereits über ihre geniale Beobachtungsgabe. »Sie sind aber eine unerschrockene junge Frau, in Ihrem Alter einen solchen Beruf zu wählen! Und in diesem Männermetier dann noch so hübsch zu sein!«, fuhr sie fort. »Verraten Sie mir, wie ist es dazu gekommen?«
Nach kurzem Zögern schilderte May, wie sie und ihr älterer Bruder Sam ihr Zuhause auf der Zuckerplantage in Barbados verlassen hatten und zwei Monate zuvor auf einem mit Zucker beladenen Frachtschiff nach Liverpool gereist waren. Sie erzählte ihrem Fahrgast, sie habe, ermutigt von ihrem Cousin in London, die Stellenanzeigen studiert und sich um die Chauffeursstelle beworben.
Miss Nettlefold bekundete, von Mays Geschichte »überaus fasziniert« zu sein, und plauderte während der letzten zwanzig Meilen der Fahrt ohne Pause vor sich hin. Beide Frauen waren verblüfft, als sich herausstellte, dass sie genau am selben Tag im Hafen von Liverpool von Bord ihres jeweiligen Schiffes gegangen waren. Miss Nettlefold war davon überzeugt, dass dieser Zufall ein unmissverständliches Zeichen für eine künftige freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen sei. Tatsächlich wirkte ihr Fahrgast so überschwänglich, dass May fast unbehaglich zumute wurde. Sie hörte aber weiterhin höflich zu, als Miss Nettlefold ihr erklärte, sie sei auf dem Weg zu einer alten Schulfreundin aus Baltimore, Maryland, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie gab zu, etwas unsicher zu sein bei dem Gedanken, sie nach so langer Zeit wiederzutreffen.
»Natürlich sind wir brieflich in Kontakt geblieben, verstehen Sie, May? Oh, verzeihen Sie! Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie May nenne, Miss Thomas? Ich sollte Sie erst fragen, statt mir einfach die Freiheit herauszunehmen. Wir Amerikaner fallen hier in England bisweilen durch unsere lockeren Umgangsformen auf. Ich vermute, in den Augen einiger Leute wirken wir etwas zu ungezwungen.«
»Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Sie mich May nennen«, erwiderte sie. »Erst letzte Woche bat Sir Philip, mich bei meinem Vornamen nennen zu dürfen, Sie befinden sich also in bester englischer Gesellschaft.«
»Oh, Sie machen sich keine Vorstellung, wie sehr mich das
freut«, seufzte Miss Nettlefold. »Es ist so schön, jemandem zu begegnen, der versteht, was es heißt, ein bisschen außerhalb zu stehen, falls Sie wissen, was ich meine. Glauben Sie mir«, fuhr sie fort, »es gibt so vieles, worüber man hier nicht sprechen darf, und ein Yankee braucht eine Weile, bis er sich alles zusammenreimt.«
May ahnte, dass Miss Nettlefold ein weiteres Geständnis auf den modisch rot bemalten Lippen lag.
»Ich vermute, Sie haben Gerüchte über … nun … Sie wissen schon … das Treiben in den höchsten Kreisen gehört?«, fuhr Miss Nettlefold fort. Ihre Bemerkung war eher eine Feststellung als eine Frage.
May machte eine, wie sie hoffte, unverbindliche Kopfbewegung.
»Die meisten denken, es wird genauso vorübergehen wie bei seinen vorherigen verheirateten Freundinnen. Aber die kennen Wallis nicht. Ein König stirbt, ein König wird gekrönt … Was immer geschieht – wenn Wallis etwas will, dann tut sie alles, um es zu bekommen, und zur Hölle mit den Folgen!«
Mays stumme Konzentration auf die Straße vor ihr brachte Miss Nettlefold zum Schweigen, aber nur für einen Moment.
»Oh, jetzt reiße ich schon wieder meinen großen Mund auf! Verzeihen Sie mir, May.«
May hatte den Wagen an den Straßenrand gefahren und studierte die Wegbeschreibung, die neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Kurz darauf rollte der Wagen über den Kies, und Miss Nettlefold bedauerte, dass die Fahrt schon zu Ende war. Chauffeur und Fahrgast versicherten einander, dass sie sich nach dieser angenehmen Begegnung auf ein baldiges Wiedersehen freuten.
Nach ihrer Unterredung mit Sir Philip begab sich May in ihr Zimmer in Mrs Cages
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