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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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würde jemanden dafür bezahlen, das tote Baby zu begraben, aber ich habe gesagt, nein. Dein Vater war damals wie üblich nicht da. Vier Tage habe ich mit dem toten Baby in meinem Zimmer gelegen. Es war Winter. Nachts sah man die Schatten der Schneeflocken auf dem Maulbeerpapier vom Fenster. Am fünften Tag bin ich aufgestanden, habe das tote Baby in einen Tontopf getan und in die Hügel getragen und begraben. Derjenige, der den gefrorenen Boden aufgegraben hat, war nicht dein Vater sondern dieser Mann. Wenn dieses Baby nicht gestorben wäre, hättest du drei große Brüder.
    Danach habe ich dich dann allein zur Welt gebracht. Weil ich es musste? Nein, ich hätte es nicht allein machen müssen. Als ich sagte, ich wollte dich allein zur Welt bringen, war deine Tante gekränkt. Ich gestehe das jetzt zum ersten Mal: Ich hatte mehr Angst, dass ich noch ein totes Kind kriegen könnte, als davor, die Geburt allein zu machen. Ich wollte nicht, dass es jemand mitbekam. Wenn es wieder ein totes Kind war, wollte ich es allein begraben und nicht wieder aus den Hügeln zurückkommen. Als die Wehen einsetzten, habe ich deiner Tante nichts gesagt, sondern heißes Wasser in mein Zimmer geholt und deiner Schwester, die da noch ganz klein war, gesagt, sie soll sich an mein Kopfende setzen. Ich habe nicht mal geschrien, weil ich nicht wollte, dass es jemand mitkriegt, für den Fall, dass das Kind wieder tot wäre. Aber dann kamst du, warm und lebendig. Als ich dir vorm Sauberwischen einen Klaps auf den Po gegeben habe, hast du losgeschrien. Deine Schwester hat gelacht. Sie hat »Baby!« gesagt und deine weichen Backen getätschelt. Ich war so berauscht davon, dich zu haben, dass ich gar keinen Schmerz gefühlt habe. Erst später habe ich gemerkt, dass ich mir die Zunge blutig gebissen hatte. So war das mit deiner Geburt. Du hast mich von meinem Kummer geheilt und von der Angst, wieder ein totes Kind zu bekommen.
    Liebes.
    Bei dir wenigstens konnte ich alles so machen wie andere Mütter. Ich konnte dich über acht Monate stillen, weil ich so viel Milch hatte. Ich konnte dich in den Kindergarten schicken, wo keins von den anderen Kindern gewesen war, und als erste Schühchen konnte ich dir Turnschuhe kaufen statt Gummischuhe. Und ich habe dein Namensschild geschrieben, als du in die Schule kamst. Die Buchstaben von deinem Namen waren das Erste, was ich je geschrieben habe. Was habe ich dafür geübt! Ich habe dir ein Taschentuch und das Namensschildchen an die Brust gesteckt und dich selbst zur Schule gebracht. Du fragst dich, was daran so besonders ist? Für mich war es was Besonderes. Als Hyong-Chol in die Grundschule kam, bin ich nicht mitgegangen, aus Angst, dass ich vielleicht was schreiben müsste. Ich habe mir irgendeine Ausrede einfallen lassen und ihn mit eurer Tante hingeschickt. Ich höre deinen Bruder jetzt noch murren, dass alle anderen von ihrer Mama gebracht wurden, er aber mit seiner Tante gehen musste. Als dein zweitältester Bruder in die Schule kam, habe ich ihn mit Hyong-Chol hingeschickt. Deine Schwester genauso. Nur bei dir bin ich in den Ort gegangen und habe dir eine Schultasche und ein Rüschenkleid gekauft. Ich war so froh, dass ich das konnte. Ich habe diesen Mann gebeten, dir einen Schreibtisch zu bauen, auch wenn der nicht höher war als die niedrigen Tischchen für das Essen. Deine Schwester hatte keinen Schreibtisch. Sie sagt heute noch manchmal, dass sie so breite Schultern gekriegt hat, weil sie ihre Hausaufgaben im Liegen auf dem Fußboden machen musste. Ich war so stolz, wenn ich dich an deinem Schreibtisch sitzen und lernen sah. Als du dich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitet hast, habe ich dir Essen zum Mitnehmen eingepackt. Wenn du abends noch Lernzeit hattest, habe ich dich danach an der Schule abgeholt. Und du hast mich so froh gemacht. Du warst die beste Schülerin in unserem Ort.
    Als du an einer der größten Universitäten von Seoul aufgenommen wurdest und noch dazu fürs Pharmaziestudium, hat deine Oberschule ein Glückwunschtransparent für dich aufgehängt. Wenn jemand zu mir gesagt hat: »Ihre Tochter ist ja so intelligent«, reichte mein Lächeln bis über beide Ohren. Du weißt gar nicht, wie stolz ich darauf war, deine Mutter zu sein. Für meine anderen Kinder hatte ich ja all diese Sachen nie tun können, und ihnen gegenüber hatte ich nie dieses

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