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Als Mutter verschwand

Als Mutter verschwand

Titel: Als Mutter verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kyung-Sook Shin
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Gefühl. Da hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Bei dir konnte ich mich davon befreien. Selbst als du auf der Universität warst und immer nur demonstriert hast, habe ich dir nicht ins Gewissen geredet, so wie ich’s bei deinen Brüdern gemacht habe. Ich habe mich nicht eingemischt, als du bei einem Hungerstreik in dieser berühmten Kirche in Myongdong mitgemacht hast. Wenn dein Gesicht vom Tränengas voller Pickel war, habe ich dich einfach in Ruhe gelassen. Ich dachte: Ich weiß zwar nicht genau, was sie macht, aber sie wird schon ihre Gründe haben. Als du mit deinen Freunden aufs Land gekommen bist und ihr hier Abendkurse für die Leute abgehalten habt, habe ich für euch gekocht. Deine Tante hat gesagt, du wirst noch eine Rote, wenn du so weitermachst, aber ich habe dich tun lassen, was du wolltest. Bei deinen Brüdern konnte ich das nicht. Ich habe auf sie eingeredet und sie ausgeschimpft. Als dein zweitältester Bruder von der Polizei zusammengeknüppelt wurde, habe ich Salz angewärmt und auf seine Hüfte getan, aber gleichzeitig habe ich ihm gedroht, dass ich mich umbringe, wenn er so weitermacht. Und dabei hatte ich die ganze Zeit Angst, dass dein Bruder mich für dumm hält. Ich weiß, dass es Sachen gibt, die man tun muss, wenn man jung ist, aber bei deinen Geschwistern habe ich alles getan, um sie davon abzuhalten. Bei dir nicht. Obwohl ich nicht genau verstanden habe, was du verändern wolltest, habe ich dich machen lassen. Einmal während deines Studiums – im Juni, das weiß ich noch – bin ich sogar mit dir in einem Trauerzug zum Rathaus marschiert. Da war ich gerade in Seoul, weil dein Neffe auf die Welt gekommen war.
    Ich habe ein gutes Gedächtnis, was?
    Obwohl ich dafür kein besonders gutes Gedächtnis brauche, weil es so ein unvergesslicher Tag war. Als du bei Tagesanbruch aus dem Haus gehen wolltest, hast du mich gesehen und gefragt: »Willst du mitkommen, Mama?«
    Â»Wohin?«
    Â»An die Universität, wo dein zweiter Sohn studiert hat.«
    Â»Warum? Es ist ja noch nicht mal deine Universität.«
    Â»Dort findet eine Trauerfeier statt, Mama.«
    Â»Ach … was soll ich denn da?«
    Du hast mich angeschaut und schon die Tür hinter dir zumachen wollen, bist dann aber noch mal reingekommen. Ich war gerade dabei, eine Windel für deinen neugeborenen Neffen zusammenzulegen. Du hast sie mir aus der Hand gerissen. »Komm mit!«
    Â»Es ist gleich Zeit fürs Frühstück. Ich muss deiner Schwägerin Seetangsuppe machen.«
    Â»Sie stirbt doch wohl nicht gleich, wenn sie mal einen Tag keine Seetangsuppe kriegt«, hast du so grob gesagt, wie es eigentlich gar nicht deine Art ist. Und dann wolltest du unbedingt, dass ich mich ausgehfertig mache. »Ich möchte einfach mit dir hingehen, Mama. Komm schon!«
    Das hat mich gerührt. Ich erinnere mich noch genau an den Klang deiner Stimme, als du, die Studentin, zu mir, die ich nie eine Schule von innen gesehen hatte, gesagt hast: »Ich möchte einfach mit dir hingehen, Mama.«
    Das war das erste Mal, dass ich so viele Leute auf einem Haufen gesehen habe. Wie hieß noch mal der junge Mann, der mit gerade mal zwanzig Jahren durch Tränengasgeschosse umgekommen war? Ich habe dich oft gefragt, und du hast es mir oft gesagt, aber ich kann es mir einfach nicht merken. Wer war bloß dieser junge Mann, dass seinetwegen so viele Leute zusammenkamen? War das eine Menschenmenge! Während der Trauerzug zum Rathaus zog, habe ich mich dauernd nach dir umgeschaut und dich immer wieder an der Hand gefasst, aus Angst, dich zu verlieren. Du hast gesagt: »Mama! Wenn wir uns verlieren, such mich nicht. Bleib einfach stehen. Dann finde ich dich wieder.«
    Ich weiß nicht, warum mir das jetzt erst wieder einfällt. Ich hätte dran denken sollen, als ich es auf dem Hauptbahnhof nicht mit deinem Vater in die U -Bahn geschafft habe.
    Liebes, mit dir habe ich so viel erlebt. Ich habe nicht verstanden, was all die vielen Leute gesungen haben, und konnte auch nicht mitmachen, aber es war das erste Mal, dass ich auf einer Demonstration war. Ich war so stolz, dass du mich dahin mitgenommen hattest. Du warst dort mehr als nur meine Tochter. Du sahst ganz anders aus als zu Hause – wie ein Falke warst du. Ich habe zum ersten Mal bemerkt, wie entschlossen dein Mund war, wie fest deine Stimme. Mein Liebes, meine Tochter. Wenn ich danach in

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