Als ploetzlich alles anders war
fetter schwarzer Blockschrift, Betreutes Wohnen für Kinder und Jugendliche, den Teri erst jetzt bemerkte, obwohl einem die Schrift förmlich ins Auge sprang.
» Das ist jetzt nicht euer Ernst«, rief Teri fassungslos, nachdem sie den Text überflogen und den Flyer wieder auf den Tisch geworfen hatte. » Ihr wollt Louisa einfach abschieben?«
Ihre Mutter machte eine hilflose Gebärde, als ob sie gar nicht mehr wüsste, was richtig und was falsch wäre.
» Aber wir können Louisa auch nicht rund um die Uhr bewachen. Sie braucht viel mehr Assistenz und Hilfe, als wir es leisten können. Mama und ich arbeiten beide und du bist auch nicht immer da«, sagte Teris Vater und drehte sich um. Er ging langsam zum Couchtisch und klopfte dabei seine Hosentaschen ab, als suchte er nach Zigaretten, obwohl er schon eine ganze Weile nicht mehr rauchte. Vielleicht stresste ihn das alles so, dass er heimlich wieder angefangen hatte.
» Sieh dir doch nur an, was sie heute hier angerichtet hat«, er deutete auf den blutbefleckten Teppich. Teri wusste, dass er damit auch indirekt darauf hinwies, wie oft Louisa jetzt etwas kaputt ging. Mal war es ein Spiegel, dann eine Tasse. Fast alle Türklinken wackelten inzwischen, weil Louisa sich immer daran festhielt, neulich hatte sie einen Haken aus der Wand gerissen, als sie einen Waschlappen aufhängen wollte.
Eigentlich waren das Lappalien, aber Teris Vater regte es jedes Mal auf.
» Du willst sie einfach nicht mehr, das ist der Grund«, sagte Teri mit tonloser Stimme. Sie war so enttäuscht von ihrem Vater, den sie für stärker gehalten hatte, der sich aber nun als erbärmlicher Feigling entpuppte.
» Das stimmt nicht, ich kann es nur nicht ertragen, sie so zu sehen, wie sie jetzt ist.«
Teri musterte ihren Vater verächtlich.
» Sie ist immer noch Louisa. Aber du kannst nicht mehr so mit ihr angeben wie früher, das ist es doch, oder?«
» Teri«, sagte ihre Mutter warnend. » So was darfst du Papa nicht vorwerfen.«
» Dieser Unfall hat unser ganzes Leben kaputt gemacht. Warum ist sie auch ohne Helm gefahren?«, murmelte Teris Vater, setzte sich in einen Sessel und fuhr mit den Händen stöhnend über sein Gesicht. » Sie war doch sonst immer so vernünftig.«
Vernünftig schon, aber auch ein wenig chaotisch. Auch aus diesem Grund hatte sich Teri damals schon lange nach einem eigenen Zimmer gesehnt. Louisa ließ einfach alles herumliegen oder verlegte Dinge, die sie entweder nie oder erst nach langem Suchen wiederfand. An jenem Tag im letzten Sommer hatte sie auch wieder nicht gewusst, wohin ihr Fahrradhelm verschwunden war, weil sie ihn nicht, wie Teri es tat, immer an einem festen Platz aufbewahrte, sondern ihn einfach irgendwo liegen ließ. Selber schuld, hatte Teri gedacht. So eine Schlampigkeit musste bestraft werden. Jedenfalls hatte Teri ein Alibi, allein loszuradeln, ohne damit rechnen zu müssen, dass sich ihr Louisa doch an die Fersen heften würde. Sie hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass ihre Schwester ohne Helm fahren könnte.
» Es ist alles meine Schuld«, sagte Teri. Der Augenblick war da, sie wusste es einfach.
» Aber Teri, das ist doch Unsinn. Du musst endlich aufhören, dich mit solchen Gedanken zu quälen«, erwiderte Mama sanft.
So liebevoll wird sie mich nie wieder anblicken, dachte Teri und ein eisiger Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie kämpfte mit den Tränen, sie wusste, dass man ihr ansah, was in diesem Moment in ihr vorging, welche Qualen sie litt, konnte aber nichts dagegen tun. Sie wünschte, sie wäre noch ganz klein, dann könnte ihr keiner einen Vorwurf machen. Kleine Kinder stellten oft allerlei Dinge an, weil sie nicht wussten, wie gefährlich etwas war, deshalb gab ihnen auch keiner die Schuld, wenn etwas Schlimmes passierte.
» Ach, Kleines«, sagte ihre Mutter und nahm Teri in den Arm.
Sie bettete Teris Gesicht an ihrer Schulter und streichelte ihren Hinterkopf. Ein, zwei, drei Sekunden hielt Teri die Augen geschlossen, kuschelte sich an ihre Mutter und atmete ihren vertrauten Geruch ein. Ein letztes, ein allerletztes Mal. Danach würde es nie wieder so sein, selbst wenn sie ihr eines Tages vielleicht verzieh.
Ein, zwei, drei, vier Sekunden noch, dann machte Teri sich los, sanft aber entschieden, und erzählte ihren Eltern, was sie im letzten Sommer getan hatte.
Louisa allein unterwegs
Louisa rollte in das S-Bahn-Abteil, suchte nach einem Platz, der groß genug für den Rollstuhl war, und hatte das
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