Als ploetzlich alles anders war
schwankend zum Stehen.
Dieser verdammte Film hatte alles wieder aufgewühlt und das, was als Erinnerung ganz tief nach unten gesunken war, wieder nach oben gespült. Sich den Film anzuschauen, war genauso dämlich gewesen wie das Lauschen neulich. Louisa wusste, wie fertig sie das alles machen würde, kam aber nicht dagegen an, es trotzdem zu tun. Das war doch krank.
Undeutliche Erinnerungen an den Unfall stiegen in ihr auf. Wie sie Teri an diesem heißen Julinachmittag hinterhergerast und ihr das lange Haar um den Kopf geflattert war, sodass sie es sich immer wieder aus dem Gesicht streichen und einhändig fahren musste. Irgendwann hatte sie dann wohl das Gleichgewicht verloren und war in diese Dunkelheit hineingestürzt wie in einen Strudel. Als sie wieder aufgewacht war, hatte sie nicht einmal ihre Familie gleich erkannt.
Erst allmählich war Louisa klar geworden, dass diese Leute, die mit ernsten, bleichen Gesichtern um ihr Bett herumstanden, ihre Mutter, ihr Vater und ihre Schwester waren.
Alle waren so glücklich, dass sie den Unfall überlebt hatte. Sie selbst realisierte erst mit der Zeit, was wirklich geschehen war. Dass sie eine schwere Kopfverletzung erlitten hatte und gleich nach dem Unfall operiert worden war, um eine Gehirnblutung zu stillen. Louisa hatte Schmerzen, sie konnte sich kaum bewegen oder richtig sprechen und alles strengte sie furchtbar an.
Louisa starrte auf ihre Füße, die gekrümmten Zehen, die sich in den Teppich gruben. Mit diesen Füßen würde sie nicht einmal in einen Schlittschuh reinkommen, geschweige denn damit über das Eis laufen können. Sie würden sich widersetzen, als hätten sie einen völlig eigenen Willen. Manchmal kam Louisa das ja auch so vor, dann verglich sie sich mit einer Marionette an langen, feinen Fäden, die ein unsichtbarer Spieler in den Händen hielt und je nach Lust und Laune zappeln ließ.
Für sie selbst wäre es kein Unglück gewesen, wenn sie nach dem Unfall nicht wieder aufgewacht wäre. Sie hätte ja nichts davon gewusst. Für ihre Familie wäre es schlimm gewesen, ja. Aber war es für ihren Vater nicht genauso schlimm oder sogar schlimmer, w i e sie überlebt hatte?
Wo ist Louisa?
Teri kam völlig durchgefroren nach Hause. Sie wollte baden und dann gleich ins Bett. Sie war immer noch ganz durcheinander und hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Das Gespräch mit Louisas Freundinnen war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Irgendwann war es ihr nämlich entglitten und am Ende war sie es, die getröstet werden musste, weil sie plötzlich in Tränen ausgebrochen war.
Niki hatte dann von ihrer Cousine erzählt, die nach einem Unfall vor einigen Jahren jetzt ähnlich schwer behindert wie Louisa war. Es gäbe so viel mehr Möglichkeiten, als die meisten Leute wüssten, hatte sie gesagt. Finanzielle Hilfen, Hilfen für die Schule, für zu Hause. Ihre Cousine hatte sich kurz nach dem Unfall auch so in ihr Schneckenhaus zurückgezogen wie Louisa, aber jetzt wäre sie wieder ein glücklicher Mensch. Anders glücklich als früher vielleicht, hatte Niki eingeräumt, aber wenn sie jetzt mit ihr zusammen wäre, dann dachte sie nicht mehr ständig an die Behinderung, dann war ihre Cousine einfach nur ein fünfzehnjähriges Mädchen wie die meisten anderen auch.
Fast hätte Teri den drei Mädchen alles erzählt, es dann aber glücklicherweise doch nicht getan. Bevor sie überhaupt mit jemand anderem darüber sprach, sollten es erst Louisa und ihre Eltern erfahren. Das würde zwar der schwerste Schritt in ihrem Leben sein und möglicherweise furchtbare Folgen haben– die schlimmste davon wäre, ihre Mutter so zu schockieren, dass sie Teri nicht mehr lieben könnte. Es wäre nur gerecht, dachte Teri, aber dennoch kaum zu ertragen. Sie würde es trotzdem durchziehen. Sie wollte und konnte nicht mehr schweigen.
Mit steifen Fingern schloss Teri die Wohnung auf. Überall brannte Licht, in der Diele, in der Küche, im Wohnzimmer, ein mit Zahlen bekritzelter rosa Post-It-Zettel lag auf dem Boden vor dem Telefontisch. Teri hörte ihre Eltern im Wohnzimmer laut und aufgeregt miteinander streiten. Seit dem Unfall stritten sie oft. Manchmal ging Papa dann nachts noch einmal weg und kam erst lange nach Mitternacht wieder nach Hause. Oder er schlief bei einem Freund und ließ sich erst am nächsten Tag wieder blicken. Teri näherte sich leise der Wohnzimmertür, zerrte an ihrem Schal und zog schnell ihre nasse Daunenjacke aus.
» Ich versteh
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