Also sprach GOLEM
das für unsere Zeit so typisch ist. Es hat kein Nordlicht und keine sonst außergewöhnlichen Erscheinungen gegeben, keine Heimsuchungen und auch keine Geistererscheinungen, es ist gar nichts geschehen, außer daß die Aufnahme elektrischer Leistung in beiden Gebäuden um zwei Uhr zehn in der Nacht kurzfristig anstieg und einen Augenblick später ganz aufhörte. Außer dieser Spur in den Aufzeichnungen der Stromzähler hat man nichts gefunden; GOLEM entnahm dem Netz zehn Minuten lang neunzig Prozent der zulässigen Leistung und HONEST ANNIE vierzig Prozent mehr als sonst. Nach den Berechnungen von Dr. Viereck haben beide die gleiche Menge Kilowatt verschlungen, denn HONEST ANNIE erzeugte die von ihr benötigte Energie normalerweise selbst. Wir schlossen daraus, daß es sich nicht um einen Unfall oder Defekt handelte, auch wenn gerade das vielfach behauptet wurde. Untersuchungen durch unsere Fachleute, die erst nach einem Monat aufgenommen wurden – denn solange dauerte es, bis man die Erlaubnis zu einer »Obduktion« erhalten hatte – ergaben, daß die Verbindungen zwischen den Grundkomplexen zerstört waren, sowie schwache Herde von Radioaktivität in den Josephsonschen Untersystemen. Nach Ansicht der meisten Fachleute waren das absichtlich hervorgerufene Zerfallserscheinungen,mit denen gewissermaßen die Spuren dessen, was zuvor geschehen war, verwischt werden sollten. Beide Maschinen hatten demnach etwas getan, wozu sie keinerlei zusätzliche Energie benötigten, sondern hatten diese lediglich dazu benutzt, um alle Versuche zunichte zu machen, sie wieder instandzusetzen oder – falls jemand diesen Ausdruck vorzieht – wiederzubeleben. Der Vorfall wurde in der ganzen Welt als Sensation empfunden. Gleichzeitig wurde offenbar, wieviel Angst und Feindseligkeit GOLEM ausgelöst hatte, und zwar mehr durch seine bloße Anwesenheit als durch alles, was er sagte. Das galt nicht nur für die breite Masse der Bevölkerung, sondern selbst für die wissenschaftliche Welt. Alsbald erschienen Bestseller auf dem Markt, in denen völlig unausgegorene Dummheiten dargeboten wurden als Lösung des Rätsels, das man als »ascension« oder »assumption« bezeichnete. Nachdem ich das gelesen hatte, befürchtete ich – ebenso wie Creve –, daß um GOLEM eine dem Zeitgeist entsprechende billige Legende entstehen würde. Unsere Entscheidung, das MIT zu verlassen und an anderen Universitäten zu arbeiten, war weitgehend davon bestimmt, daß wir mit einer solchen Legende nichts zu tun haben wollten. Wir haben uns jedoch geirrt. Es kam zu keiner GOLEM-Legende. Offenbar hat niemand sie gewollt. Niemand hat sie gebraucht, sei es als Warnung, sei es als Hoffnung. Die Welt ging weiter ihren alltäglichen Gang. Unerwartet rasch vergaß sie den historischen Präzedenzfall, daß ein Wesen, das kein Mensch war, auf der Erde erschienen und zu uns über sich und uns gesprochen hatte. Bei so unterschiedlichen Kreisen wie den Mathematikern und den Psychiatern bin ich wiederholt auf die Ansicht gestoßen, es sei eine Art Abwehrreaktion gewesen, wenn die Gesellschaft über GOLEM geschwiegen und ihn infolgedessenvergessen habe, eine Abwehr gegen einen ungeheuren Fremdkörper, der mit dem, was wir zu akzeptieren vermögen, nicht in Einklang zu bringen sei. Nur eine Handvoll von Leuten hat den Abschied von GOLEM als einen unersetzlichen Verlust empfunden – als eine Verstoßung, ja geradezu als eine intellektuelle Verwaisung. Mit Creve habe ich darüber nicht gesprochen, doch bin ich sicher, daß er es in dieser Weise empfunden hat: so als wäre eine ungeheure Sonne, deren strahlender Glanz so stark war, daß wir ihn nicht ertragen konnten, plötzlich untergegangen, und als hätten die heraufziehende Kühle und Dunkelheit uns die Öde unserer weiteren Existenz zum Bewußtsein gebracht.
II.
Noch heute kann man in das letzte Stockwerk des Gebäudes hinauffahren und auf der verglasten Galerie den gewaltigen Brunnen umkreisen, in dem GOLEM ruht. Doch begibt sich niemand mehr dorthin, um durch die geneigten Scheiben auf die Berge von Lichtleitungen hinabzuschauen, die mittlerweile trübem Eis ähnlich geworden sind. Ich bin nur zweimal dort gewesen. Das erste Mal, bevor die Galerie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, zusammen mit den Spitzen der Verwaltung des MIT, Vertretern der staatlichen Behörden und einem Haufen Journalisten. Die Galerie kam mir damals eng vor. In die fensterlose Wand, die in eine Kuppel übergeht, waren labyrinthische
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