Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Als ich sechs Jahre alt war, hörte mein Großvater auf, mich zu erkennen. Er wohnte im Nachbarhaus unterhalb unseres Hauses, und weil ich seinen Obstgarten als Abkürzung auf dem Weg zur Schule benutzte, warf er mir gelegentlich ein Scheit Holz hinterher, ich hätte in seinen Feldern nichts verloren. Manchmal jedoch freute ihn mein Anblick, er kam auf mich zu und nannte mich Helmut. Das war ebenfalls nichts, womit ich etwas anfangen konnte. Der Großvater starb. Ich vergaß diese Erlebnisse – bis die Krankheit bei meinem Vater losging.
In Russland gibt es ein Sprichwort, dass nichts im Leben wiederkehrt außer unseren Fehlern. Und im Alter verstärken sie sich. Da der Vater schon immer einen Hang zum Eigenbrötlerischen hatte, erklärten wir uns seine bald nach der Pensionierung auftretenden Aussetzer damit, dass er jetzt Anstalten machte, jegliches Interesse an seiner Umwelt zu verlieren. Sein Verhalten erschien typisch für ihn. Also gingen wir ihm etliche Jahre mit Beschwörungen auf die Nerven, er solle sich zusammenreißen.
Heute befällt mich ein stiller Zorn über diese Vergeudung von Kräften; denn wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit. »Lass dich bitte nicht so gehen!«, sagten wir hundertmal, und der Vater nahm es hin, geduldig und nach dem Motto, dass man es am leichtesten hat, wenn man rechtzeitig resigniert. Er wollte dem Vergessennicht trotzen, verwendete nie auch nur die geringsten Gedächtnisstützen und lief daher auch nicht Gefahr, sich zu beklagen, jemand mache Knoten in seine Taschentücher. Er leistete sich keinen hartnäckigen Stellungskrieg gegen seinen geistigen Verfall, und er suchte nicht ein einziges Mal das Gespräch darüber, obwohl er – aus heutiger Sicht – spätestens Mitte der neunziger Jahre um den Ernst der Sache gewusst haben muss. Wenn er zu einem seiner Kinder gesagt hätte, tut mir leid, mein Gehirn lässt mich im Stich, hätten alle besser mit der Situation umgehen können. So jedoch fand ein jahrelanges Katz-und-Maus-Spiel statt, mit dem Vater als Maus, mit uns als Mäusen und mit der Krankheit als Katze.
Diese erste, sehr nervenaufreibende, von Unsicherheit und Verunsicherung geprägte Phase liegt hinter uns, und obwohl ich noch immer nicht gerne daran zurückdenke, begreife ich jetzt, dass es einen Unterschied macht, ob man aufgibt, weil man nicht mehr will, oder weil man weiß, dass man geschlagen ist. Der Vater ging davon aus, dass er geschlagen war. Im Abschnitt seines Lebens angelangt, in dem seine geistige Kraft verging, setzte er auf innere Haltung; etwas, das mangels wirkungsvoller Medikamente auch für die Angehörigen eine praktikable Möglichkeit ist, mit der Misere dieser Krankheit umzugehen.
Milan Kundera schreibt: Das einzige, was uns angesichts dieser unausweichlichen Niederlage, die man Leben nennt, bleibt, ist der Versuch, es zu verstehen.
Ich stelle mir Demenz in der mittleren Phase, in der sich mein Vater momentan befindet, ungefähr so vor: Als wäre man aus dem Schlafgerissen, man weiß nicht, wo man ist, die Dinge kreisen um einen her, Länder, Jahre, Menschen. Man versucht sich zu orientieren, aber es gelingt nicht. Die Dinge kreisen weiter, Tote, Lebende, Erinnerungen, traumartige Halluzinationen, Satzfetzen, die einem nichts sagen – und dieser Zustand ändert sich nicht mehr für den Rest des Tages.
Wenn ich zu Hause bin, was nicht allzu oft vorkommt, da wir die Last der Betreuung auf mehrere Schultern verteilen können, wecke ich den Vater gegen neun. Er liegt ganz verdattert unter seiner Decke, ist aber ausreichend daran gewöhnt, dass Menschen, die er nicht erkennt, in sein Schlafzimmer treten, so dass er sich nicht beklagt.
»Willst du nicht aufstehen?«, frage ich ihn freundlich. Und um ein wenig Optimismus zu verbreiten, füge ich hinzu: »Was für ein schönes Leben wir haben.«
Skeptisch rappelt er sich hoch. »Du vielleicht«, sagt er.
Ich reiche ihm seine Socken, er betrachtet die Socken ein Weilchen mit hochgezogenen Augenbrauen und sagt dann:
»Wo ist der dritte?«
Ich helfe ihm beim Anziehen, damit das Prozedere nicht ewig dauert, er lässt es bereitwillig über sich ergehen. Anschließend schiebe ich ihn hinunter in die Küche, wo er sein Frühstück bekommt. Nach dem Frühstück fordere ich ihn auf, sich rasieren zu gehen. Er sagt augenzwinkernd:
»Ich wäre besser zu Hause geblieben. Dich komme ich nicht so schnell wieder besuchen.«
Ich zeige ihm den Weg ins Badezimmer. Er singt
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