Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
möchte lieber heimgehen.«
»Du bist zu Hause.«
»Wo sind wir?«
Ich nenne Straße und Hausnummer.
»Na ja, aber viel bin ich hier nie gewesen.«
»Du hast das Haus Ende der fünfziger Jahre gebaut, und seither wohnst du hier.«
Er verzieht das Gesicht. Die Informationen, die er gerade erhalten hat, scheinen ihn nicht zu befriedigen. Er kratzt sich im Nacken:
»Ich glaube es dir, aber mit Vorbehalt. Und jetzt will ich nach Hause.«
Ich schaue ihn an. Obwohl er seine Verstörung zu verbergen versucht, ist ihm anzumerken, wie sehr ihm der Moment zu schaffen macht. Er ist voller Unruhe, Schweiß steht auf seiner Stirn. Der Anblick dieses kurz vor der Panik stehenden Menschen geht mir durch Mark und Bein.
Der quälende Eindruck, nicht zu Hause zu sein, gehört zum Krankheitsbild. Ich erkläre es mir so, dass ein an Demenz erkrankter Mensch aufgrund seiner inneren Zerrüttung das Gefühl der Geborgenheit verloren hat und sich an einen Platz sehnt, an dem er diese Geborgenheit wieder erfährt. Da jedoch das Gefühl der Irritation auch an den vertrautesten Orten nicht vergeht, scheidet selbst das eigene Bett als mögliches Zuhause aus.
Um es mit Marcel Proust zu sagen, die wahren Paradiesesind die, die man verloren hat. Ortswechsel bewirken in so einem Fall keine Besserung, es sei denn durch die bloße Ablenkung, die man genauso gut, wenn nicht besser, durch Singen erreicht. Singen ist lustiger, demente Menschen singen gern. Singen ist etwas Emotionales, ein Zuhause außerhalb der greifbaren Welt.
Apropos Singen: Oft heißt es, an Demenz erkrankte Menschen seien wie kleine Kinder – kaum ein Text zum Thema, der auf diese Metapher verzichtet; und das ist ärgerlich. Denn ein erwachsener Mensch kann sich unmöglich zu einem Kind zurück entwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorne entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit ist, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größeren Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist die, dass es gar zu lange dauert.
Ich schalte den CD-Player ein. Helga, meine Schwester, hat für solche Zwecke eine Sammlung mit Volksliedern gekauft. Hoch auf dem gelben Wagen . – Zogen einst fünf wilde Schwäne . Oft funktioniert der Trick. Wir trällern eine halbe Stunde lang, der alte Mann legt sich zwischendurch so sehr ins Zeug, dass ich lachen muss. Der Vater lässt sich anstecken, und da es ohnehin an der Zeit ist, nutze ich den Moment und dirigiere ihn nach oben in sein Schlafzimmer. Er ist jetzt guter Stimmung, obwohl es mit dem Überblick über Zeit, Raum und Ereignisse noch immerschlecht steht; aber das bereitet ihm im Moment kein Kopfzerbrechen.
Nicht siegen, überstehen ist alles, denke ich und bin von diesem Tag mittlerweile mindestens ebenso erschöpft wie der Vater. Ich sage ihm, was er zu tun hat, bis er in seinem Pyjama steckt. Er schlüpft von selbst unter die Decke und sagt:
»Hauptsache, ich habe einen Platz zum Schlafen.«
Er blickt um sich, hebt die Hand und grüßt jemanden, der nur für ihn vorhanden ist. Dann sagt er:
»Man kann es hier schon aushalten. Es ist eigentlich ganz nett hier.«
Wie geht es dir, Papa?
Also, ich muss sagen, es geht mir gut. Allerdings unter Anführungszeichen, denn ich bin nicht imstande, es zu beurteilen.
Was denkst du über das Vergehen der Zeit?
Das Vergehen der Zeit? Ob sie schnell vergeht oder langsam, ist mir eigentlich egal. Ich bin in diesen Dingen nicht anspruchsvoll.
Die Schatten der Anfänge verfolgen mich noch immer, obwohl die Jahre einen gewissen Abstand hergestellt haben. Wenn ich aus dem Fenster hinunter auf den winterstarren Obstgarten schaue und daran zurückdenke, was mit uns passiert ist, überkommt mich das Gefühl eines vor langer Zeit begangenen Fehltritts.
Die Krankheit des Vaters fing auf so verwirrende Weise langsam an, dass es schwierig war, den Veränderungen die richtige Bedeutung beizumessen. Die Dinge schlichen sich ein wie in der Bauernsage der Tod, wenn er draußen auf dem Gang mit seinen Knochen klappert, ohne sich zu zeigen. Wir hörten das Geräusch und dachten, es sei der Wind im langsam verfallenden Haus.
Die frühesten Anzeichen der Krankheit zeigten sich Mitte der neunziger Jahre, doch gelang es uns nicht, die Ursache richtig zu deuten. Mit bitterem
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