Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
vermuteten. Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten. Weil ihm auch kleinere Aufgaben über den Kopf wuchsen und er merkte, dass er die Kontrolle verlor, trat er jegliche Verantwortung ab.
Statt täglich die Tomatenstauden zu gießen, verbrachte er seine Zeit mit Patiencenlegen und Fernsehen. Ich erinnere mich, wie übel mir seine monotonen Freuden aufstießen. Für mich, der ich zu dieser Zeit versuchte, beruflich auf die Beine zu kommen, roch sein Leben nach dumpfer Gleichgültigkeit. Patiencenlegen und Fernsehen? Das ist aufDauer kein Lebensinhalt, dachte ich, und ich machte aus meiner Meinung kein Hehl. Ich beschwor den Vater, ich stichelte und provozierte, redete von Trägheit und fehlendem Mumm. Doch auch die hartnäckigsten Versuche, ihn aus seiner Benommenheit zu reißen, scheiterten kläglich. Mit der Miene eines Pferdes, das reglos im Gewitter steht, ließ er die Angriffe über sich ergehen. Dann setzte er seinen Alltagstrott fort.
Hätte ich damals nicht mehrere Monate im Jahr zu Hause verbringen müssen, damit ich als Ton- und Videotechniker auf der Bregenzer Seebühne das Geld verdiente, das das Schreiben nicht abwarf, hätte ich einen weiten Bogen um das Elternhaus gemacht. Nach wenigen Tagen des Aufenthalts senkte sich dort unendliche Trübsal auf mich herab. Meinen Geschwistern ging es ähnlich. Nach und nach zogen alle aus. Die Kinder stoben auseinander. Die Luft um den Vater wurde dünner.
So etwa stand es um unsere Gemütsverfassungen im Jahr 2000. Die Krankheit fraß sich nicht nur ins Gehirn des Vaters, sondern auch in das Bild, das ich mir als Kind von ihm gemacht hatte. Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwach kopf.
Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt.
Tante Hedwig erzählt, einmal hätten Emil – der älteste der sechs Brüder meines Vaters – und sie einen Besuch bei ihm gemacht. Emil hatte die Haarschneidemaschine unddas Umhängetuch dabei, Tante Hedwig weiß aber nicht mehr, ob sich mein Vater auf einen Haarschnitt eingelassen hat. Es sei mitten am Nachmittag gewesen. Im Wohnzimmer auf dem Couchtisch sei zu Tante Hedwigs Erstaunen ein Teller mit Sugoresten gestanden. Später sei meinem Vater ein Glas hinuntergefallen, er habe hilflos geschaut, worauf Tante Hedwig ihm das Angebot gemacht habe, die Scherben wegzuräumen. Sie habe ihn gefragt, wo der Kehrwisch sei. Er habe es ihr nicht sagen können, habe sie angeschaut, und plötzlich habe er Tränen in den Augen gehabt. In diesem Moment habe sie Bescheid gewusst.
Darüber geredet hätten sie nicht. Lautlos focht der Vater den Kampf mit sich selber aus. Er machte keine Erklärungsversuche. Er machte keine Ausbruchsversuche – bis auf die Wallfahrt nach Lourdes.
Das war 1998 mit Maria, der ältesten seiner drei Schwestern, die von allen Mile genannt wird, mit Erich, dem jüngsten überlebenden Bruder, und Waltraud, der Schwägerin. Der Vater, der mit seiner Frau und seinen Kindern kein einziges Mal in den Urlaub gefahren war, weil er die Welt angeblich im Krieg gesehen hatte, trat eine vergleichsweise lange Reise an in der schmalen Hoffnung auf Gnade.
Da steht man dann und lächelt leer und betet nachts und – als ob die Nachtgebete keine Macht hatten – morgens gleich wieder.
Mile, die schon damals nicht gut auf den Beinen war, soll zu ihm gesagt haben:
»Du kannst für mich gehen, und ich kann für dich denken.«
Schrecklich ist vor allem, was wir nicht begreifen. Deshalb besserte sich die Situation, als immer mehr Anzeichen darauf hindeuteten, dass den Vater mehr als nur Vergesslichkeit und Motivationsprobleme plagten. Dass ihn ganz alltägliche Dinge vor unlösbare Probleme stellten, ließ sich mit Zerstreutheit nicht mehr erklären, unmöglich, sich noch länger zu täuschen. In der Früh zog er sich nur halb, verkehrt oder vierfach an, mittags schob er die Tiefkühlpizza mitsamt der Verpackung ins Rohr, und seine Socken deponierte er im Kühlschrank. Auch wenn wir das ganze Ausmaß des Schreckens weiterhin nur langsam erfassten, war uns irgendwann doch klar, der Vater lässt sich nicht hängen, sondern leidet an Demenz.
Jahrelang war mir dieser Gedanke nicht einmal gekommen, das Bild, das ich vom Vater gehabt hatte, war dieser Deutung im Weg gestanden. So absurd es klingt, aber ich hatte es ihm
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