Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
»Oje-oje, oje-oje …« und spielt auf Zeitgewinn.
»Du sollst dich doch nur rasieren, damit du etwas gleichschaust«, sage ich.
Er folgt mir zögernd. »Wenn du dir etwas davon versprichst …«, murmelt er, blickt in den Spiegel, reibt heftig mit beiden Händen die vom Kopf abstehenden Haare, so dass die Haare hinterher tatsächlich anliegen. Er schaut sich erneut an, sagt »Fast wie neu«, lächelt und bedankt sich herzlich.
Neuerdings bedankt er sich sehr oft. Vor einigen Tagen sagte er, ohne dass ich den geringsten Zusammenhang hätte herstellen können: »Ich bedanke mich recht herzlich bei dir schon im Voraus.«
Auf derartige Eröffnungen reagiere ich mittlerweile entgegenkommend: »Gern geschehen«, sage ich, oder: »Keine Ursache« oder: »Das tue ich doch gern.« Denn erfahrungsgemäß sind bestätigende Antworten, die dem Vater das Gefühl geben, alles sei in Ordnung, besser als das Nachfragen von früher, das ihn nur beschämte und verunsicherte; niemand gibt gerne Antworten auf Fragen, die ihn, wenn er sie überhaupt begreift, nur zur Einsicht in seine Unzulänglichkeiten bringen.
Am Anfang waren diese Anpassungsmaßnahmen schmerzhaft und kräftezehrend. Weil man als Kind seine Eltern für stark hält und glaubt, dass sie den Zumutungen des Lebens standhaft entgegentreten, sieht man ihnen die allmählich sichtbar werdenden Schwächen sehr viel schwerer nach als anderen Menschen. Doch mittlerweile habeich in die neue Rolle einigermaßen gut hineingefunden. Und ich habe auch gelernt, dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht.
Wenn mein Vater sich bedanken möchte, soll er sich bedanken, auch ohne nachvollziehbaren Anlass, und wenn er sich darüber beklagen will, dass ihn alle Welt im Stich lässt, soll er sich beklagen, egal, ob seine Einschätzung in der Welt der Fakten standhalten kann oder nicht. Für ihn gibt es keine Welt außerhalb der Demenz. Als Angehöriger kann ich deshalb nur versuchen, die Bitterkeit des Ganzen ein wenig zu lindern, indem ich die durcheinandergeratene Wirklichkeit des Kranken gelten lasse.
Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.
Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt:
»Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber.«
Und einmal, als ich ihn frage, wie es ihm gehe, antwortet er:
»Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.«
Und dann ansatzlos Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen:
»Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.«
Witz und Weisheit des August Geiger. Schade nur, dassdie Sprache langsam aus ihm heraussickert, dass auch die Sätze, bei denen einem vor Staunen die Luft wegbleibt, immer seltener werden. Was da alles verlorengeht, das berührt mich. Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. Noch ist das Gefühl, dass dies mein Vater ist, der Mann, der mitgeholfen hat, mich großzuziehen, intakt. Aber die Momente, in denen ich den Vater aus früheren Tagen nicht wiedererkenne, werden häufiger, vor allem abends.
Die Abende sind es, die einen Vorgeschmack auf das liefern, was bald schon der Morgen zu bieten haben wird. Denn wenn es dunkel wird, kommt die Angst. Da irrt der Vater rat- und rastlos umher wie ein alter König in seinem Exil. Dann ist alles, was er sieht, beängstigend, alles schwankend, instabil, davon bedroht, sich im nächsten Moment aufzulösen. Und nichts fühlt sich an wie zu Hause.
Ich sitze seit einiger Zeit in der Küche und tippe Notizen in meinen Laptop. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, und der Vater, der von dort Stimmen hört, schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele, lauscht und murmelt mehrmals bei sich:
»Das sagt mir nichts.«
Dann kommt er zu mir in die Küche, tut so, als schaue er mir beim Schreiben zu. Aber ich merke mit einem Seitenblick, dass er Unterstützung braucht.
»Willst du nicht ein bisschen fernsehen?«, frage ich.
»Was habe ich davon?«
»Na ja, Unterhaltung.«
»Ich
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