Alte Liebe: Roman
verwildern lassen.
Das sind die ewigen Fragen, die sich jeder von uns beiden heimlich stellt, über die er mit dem anderen aber nicht sprechen will: Wer stirbt zuerst, wer lässt wen alleine zurück, wer käme besser alleine zurecht?
Insgeheim, ich weiß nicht, ob es Lore auch so geht, hofft man eigentlich, der zu sein, der zuerst geht. Ist das feige?
*
»Sag mal, Lore, ist das feige, wenn man sich wünscht, der erste zu sein, der stirbt?«
»Willst du dich schon aus dem Staub machen?«
»Meine Frage ist ernst gemeint.«
»Harry, was sind das für Gedanken? Nach der durchschnittlichen Lebenserwartung haben wir noch zwanzig Jahre zu leben – ich sogar zweiundzwanzig.«
»Das ist doch keine Antwort auf meine Frage.«
»Ich will nicht über unseren Tod nachdenken. Das ist doch müßig. Es kommt sowieso anders, als man denkt. Ich gehe morgen über die Straße und werde überfahren und aus. Ist doch nichts berechenbar.«
»Dann pass halt auf.«
»Bitte?«
»Ich meine, wenn du morgen über die Straße gehst.«
»Ist gut, Harry, ist gut.«
»Du hast ja im Prinzip recht. Manchmal habe ich einfach Angst, mal alleine zu sein. Alleine in dem Haus.«
»Ja. Daran will ich gar nicht denken. Bitte, Harry, lass uns nicht über so was reden. Nicht heute, ja?«
»Okay. Dann hat es vermutlich auch keinen Sinn, das Thema Testament mal wieder anzusprechen?«
»Gar keinen, Harry.«
»Ich kenne niemanden in unserem Alter, der nicht ein Testament gemacht hätte.«
»Seltsam, ich kenne keinen, der eins gemacht hat.«
»Die Leute reden nicht darüber. Sie machen es und fertig.«
»Glaubst du, mein Bruder hat ein Testament gemacht?«
»Theo? Schon vor dreißig Jahren. Und nach jeder Pleite und nach jeder Frau hat er es erneuert. Als ihn Carmen verließ, hat er sofort alles geändert. Hat er mir selbst erzählt.«
»Dann erbt jetzt Rita?«
»Wird so sein. Nur, die dumme Nuss hat ja keine Ahnung davon, dass sie bloß Schulden erben wird.«
»Ach, Rita, ja, sie ist eine dumme Nuss.«
»Wenn an ihr nichts mehr zu liften ist, bringt sie sich eh um.«
»Ich war doch neulich mit ihr in dem Wellnessbad. Stell dir vor, die ist im ganzen Intimbereich gepierct und tätowiert.«
»Im ganzen Intimbereich? Was heißt das?«
»Was wohl?«
»Schon gut, verstehe. Ich nehme an, da steht dein bescheuerter Bruder drauf.«
»Weiß ich nicht, schon möglich.«
»Sicher.«
»Sag mal, wie macht man denn überhaupt ein Testament?«
»Du willst also doch darüber reden?«
»In Gottes Namen, ja.«
»Man schreibt seinen Willen handschriftlich auf und deponiert das bei einem Notar.«
»Und der kriegt Geld dafür?«
»Sinnvoll ist es, sich von einem Notar beraten zu lassen.«
»Harry, du tust ja gerade so, als hätten wir ein Firmenimperium zu vererben. Außerdem ist doch klar – darüber haben wir schon gesprochen: Du beerbst mich, ich beerbe dich.«
»Schon falsch. Das hatten wir auch schon: Kinder haben ein Pflichterbteil.«
»Na gut, erbt Gloria eben einen Teil.«
»Lore! Darüber hatten wir uns doch verständigt, dass das angesichts ihrer Zukunft nicht nötig ist.«
»Vielleicht doch. Was weiß man, vielleicht sagt sie vor dem Traualtar noch nein.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Wem willst du denn dann alles vererben? Hast du eine heimliche Geliebte, die versorgt werden muss?«
»Lore, du spinnst.«
»Ach!«
»Du willst einfach nicht ernsthaft über das Thema reden.«
»Stimmt.«
»Na, dann eben nicht.«
»Stell dir vor: Eine Freundin von der Kollegin Drechsel war neulich beim Begräbnis ihres Vaters in München. Da stehen die Witwe und fünf erwachsene Kinder am Grab und sehen verwundert, dass da noch eine andere Frau mit Witwenschleier und drei fast erwachsenen Kindern steht und trauert. Es stellt sich heraus, dass der Verstorbene ein Doppelleben geführt hat. Er war Vertreter einer Firma in Stuttgart, bereiste den ganzen Süden und Südwesten. Und er hatte eine Familie in München und eine in Freiburg, und beide wussten nichts voneinander. Beiden Familien hatte er ein Reihenhaus gekauft, beiden Familien war er der Vater, der eben berufsmäßig viel unterwegs war. Verrückt, oder?«
»Klingt wie aus einem Roman. Hatte nicht Charles Lindbergh eine Familie in Deutschland und eine in Amerika?«
»Ja, hatte er. Und du, Harry, wo ist deine zweite Familie?«
»Auch in München.«
»Wie heißt die Dame?«
»Uschi Glas.«
»Harry, tu alles, aber tu mir das nicht an!«
»Schon gut, ich lasse es. Nein,
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