Alte Meister: Komödie (German Edition)
Winkel abgedrängt und sah nichts mehr als die russischen Rücken, und das heißt, nichts mehr als lauter schwere russische Wintermäntel, die alle einen penetranten Naphthalingeruch ausdampften, denn die russische Gruppe hatte offensichtlich ihren Weg ins Museum direkt vom Autobus in die Gemäldegalerie bei Nieselregen zurückzulegen gehabt. Da ich seit Jahrzehnten unter Atemnot leide und ohnehin jeden Tag mehrere Male glaube, ersticken zu müssen , selbst im Freien, waren mir diese Augenblicke, die doch tatsächlich Minuten gewesen waren, hinter der russischen Gruppe widerwärtig, ich sog, in den Bordone-Saal-Winkel gedrückt, andauernd eine nach Naphthalin stinkende Luft ein, die viel zu schwer warfür meine schwachen Lungenflügel. Ich habe es ja an und für sich schon sehr schwer, im Kunsthistorischen Museum zu atmen, geschweige denn unter solchen Umständen wie beim Auftreten der russischen Gruppe. Die ukrainische Führerin redete zu der russischen Gruppe ein sogenanntes klassisches Moskowiter Russisch und ich verstand es zum Großteil, allerdings hatte sie eine fürchterliche geradezu stechende Aussprache, sagte sie etwas in Deutsch, wie sie das Wort Engelskopf sagte, war doch nur grauenhaft. Ich konnte zuerst nicht sagen, ob die Dolmetscherin mit der russischen Gruppe aus Rußland angereist war oder ob es sich bei ihr um eine jener russischen Emigrantinnen handelte, die nach dem Krieg nach Wien gekommen sind und die auch heute noch nach Wien kommen, jene jüdischen russischen Emigrantinnen, die hochintelligent sind und die in Wien schon immer den Ton angegeben haben im Hintergrund, was der Wiener Geistesgesellschaft immer zum Vorteil gewesen ist. Diese russischen jüdischen Emigrantinnen sind ja die eigentliche intellektuelle Würze des Wienerischen Gesellschaftslebens, sie sind es immer gewesen, ohne sie wäre das Wiener Gesellschaftsleben uninteressant. Freilich gehen einem diese Leute, wenn sie sozusagen größenwahnsinnig werden und alles und jedes zu beherrschen versuchen, auch bald auf die Nerven, aber diese Dolmetscherin ist ja nicht gerade ein Musterbeispiel für diese Art von russischen Emigrantinnen gewesen, die ich meine, wenn sie, wie gesagt, überhaupt eine solche russische Emigrantin ist, eher scheint sie doch mit der russischen Gruppe aus Rußland nach Wien gekommen zu sein, die Art und Weise, wie sie vor der russischen Gruppe ihr Russisch gesprochen hat, spricht gegen die Annahme, sie sei eine russische Emigrantin, dafür, daß sie mit der russischen Gruppe nach Wien gekommen ist und möglicherweise gerade an diesem Tag erst von Rußland nach Wien gekommen ist, wenigstens hatte ich gleich diese Meinung, nachdem ich ihre Kleider in Augenschein genommen hatte, ihre Stiefel vor allem, siehatte tatsächlich nicht das geringste Westliche an sich, wahrscheinlich ist sie eine kunsthistorisch ausgebildete Kommunistin, dachte ich, sie in dem Augenblick, in welchem ich dazu Gelegenheit gehabt habe, sozusagen von oben bis unten betrachtend. Die russischen Emigrantinnen in Wien, von welchen ich vorher gesprochen habe, kleiden sich ja vornehmlich westlich, wenn auch nicht so westlich wie die eigentlichen Westlichen, aber doch westlich. Nein, die Dolmetscherin ist keine russische Emigrantin, dachte ich, sie ist in der Nacht mit der russischen Gruppe über die Grenze gekommen und hat die vergangene Nacht nicht einmal geschlafen, wie die ihr anvertraute russische Gruppe auch nicht, sozusagen direkt aus Rußland und direkt aus dem schmutzigen Autobus ist die Gruppe ins Museum hereingegangen, dachte ich, so sieht sie aus, so sieht die Dolmetscherin aus, so sieht die Gruppe aus. Ich konnte, weil die russische Gruppe mir den Blick verstellte, jetzt nicht einmal die Samtsitzbank im Bordone-Saal sehen, also nicht sehen, ob Reger noch immer hinausgegangen oder doch schon wieder hereingekommen war. Der Sebastiano-Saal, in welchem ich an die Wand gedrückt war, ist der am schlechtesten gelüftete Saal im Kunsthistorischen Museum, ausgerechnet im Sebastiano-Saal mußte ich von der russischen Gruppe an die Wand gedrückt werden, dachte ich, ausgerechnet auch noch von solchen nach Knoblauch und Kot und Nässe stinkenden Leuten, dachte ich. Menschenansammlungen sind mir immer verhaßt gewesen, ich habe sie lebenslänglich gemieden, nie bin ich auf gleich was für eine Versammlung gegangen wegen meines Massehasses, wie übrigens Reger auch nicht, ich hasse nichts tiefer als die Masse, die Menge, andauernd glaube ich ja,
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