Alte Meister: Komödie (German Edition)
ohne daß ich sie aufsuche schon, von der Masse oder von der Menge erdrückt zu werden. Schon als Kind bin ich ihr aus dem Weg gegangen, der Masse, habe ich die Menge gehaßt, die Menschenansammlung, die Konzentration von Gemeinheit und Kopflosigkeit und Lüge. So sehr wir jeden einzelnenlieben müßten , denke ich, so sehr hassen wir die Masse. Diese russische Gruppe war aber natürlich nicht die erste, die ich im Kunsthistorischen Museum erlebt habe und die mich sozusagen im Kunsthistorischen Museum überfallen und an die Wand gedrückt hat, in letzter Zeit häufen sich die russischen Gruppen im Kunsthistorischen Museum, ja es scheint, als kämen jetzt sogar mehr russische Gruppen ins Kunsthistorische Museum als italienische. Die Russen und die Italiener treten im Kunsthistorischen Museum immer in Gruppen auf, während die Engländer nie in Gruppen, sondern immer nur allein auftreten, auch die Franzosen treten immer allein auf. An manchen Tagen schreien die russischen Führer und Führerinnen mit den italienischen um die Wette, und das Kunsthistorische Museum ist dadurch ein Schreihaus. Das ist natürlich meistens am Samstag der Fall, genau an dem Tag, an welchem Reger und ich nie ins Kunsthistorische Museum gehen, denn daß ich und Reger heute, Samstag, ins Kunsthistorische Museum gegangen sind, ist ja eine Ausnahme von der Regel und wie man sieht, haben wir immer gut daran getan, an Samstagen nicht ins Kunsthistorische Museum zu gehen, wenngleich es am Samstag kostenlos aufzusuchen ist wie am Sonntag. Lieber zahle ich die zwanzig Schilling für eine Eintrittskarte, so Reger einmal, und ich muß diese grauenhaften Besuchergruppen nicht über mich ergehen lassen. Museumsbesucher in Gruppen über sich ergehen zu lassen, ist eine Gottesstrafe, ich kenne nichts Fürchterlicheres, so Reger einmal. Sicher war es ihm eine wenn auch sozusagen selbstverschuldete Strafe Gottes, daß er sich ausgerechnet an diesem Samstag mit mir im Kunsthistorischen Museum verabredet hat, dachte ich und fragte mich, zu welchem Zweck?, und konnte mir keine Antwort geben. Auch hätte ich natürlich gern gewußt, was Irrsigler jetzt schon zum zweiten Mal Reger ins Ohr geflüstert hat, zum ersten Mal etwas, das ihn anscheinend nicht im geringsten berührt hat, zum zweiten Mal allerdings etwas, das Reger sofort von der Bordone-Saal-Sitzbankaufstehen und aus dem Bordone-Saal hinausgehen hatte lassen. Irrsigler sagt bei jeder Gelegenheit, er habe eine Vertrauensstellung , es ist rührend, wenn er das sagt, und er sagt es so oft, daß es mit der Zeit immer rührender wird. Irrsigler nickt, wenn Reger kommt und er ihn entdeckt, mit dem Kopf, das tut er nicht, wenn ich komme und wenn er mich sieht. Irrsigler hat von Reger schon dreimal zum Zwecke einer Wohnungseinrichtung einen Kredit bekommen auf mehrere Jahre, den er dann an Reger nicht zurückzahlen hat müssen. Reger hat Irrsigler schon mehrmals von ihm nicht mehr getragene Kleider geschenkt, tatsächlich erstklassige Kostbarkeiten aus den vorzüglichsten Tweedstoffen, wie Reger einmal zu mir gesagt hat, ist alles, was ich trage, von denHebriden . Aber Irrsigler hat kaum Gelegenheit, die Regerschen Kleiderkostbarkeiten zu tragen, weil er die ganze Woche im Kunsthistorischen Museum Dienst macht in seiner Uniform, außer Montag, aber am Montag läuft er zu Hause doch nur im Schlosseranzug umher, denn der Montag ist bei ihm immer nur angefüllt mit Hausarbeiten. Er macht alles selbst. Er malt selbst aus, er zimmert alles selbst, er nagelt und bohrt und schweißt sogar alles selbst. Achtzig Prozent der Österreicher gehen in ihrer Freizeit in ihren Schlosseranzügen umher, behauptet Reger, und die meisten von ihnen selbst an Sonn- und Feiertagen, der Großteil der Österreicher läuft an Sonn- und Feiertagen im Arbeitsanzug umher und streicht und nagelt und schweißt. Die Freizeit der Österreicher ist ihre eigentliche Arbeitszeit, behauptet Reger. Die meisten Österreicher wissen mit ihrer Freizeit nichts anzufangen und zerarbeiten sie stumpfsinnig. Die ganze Woche sitzen sie in ihren Ämtern und stehen auf ihren Arbeitsplätzen, sagt Reger, an Sonn- und Feiertagen sieht man sie ausnahmslos in ihre Schlosseranzüge geschlüpft Hausarbeiten verrichten, sie streichen ihre eigenen vier Wände oder nageln auf ihrem Dach herum oder waschen ihr Auto. Irrsigler sei so ein typischer Österreicher, sagt Reger, und die Burgenländer sinddie typischsten Österreicher. Der Burgenländer schlüpft nur einmal in
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