Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
EINS
Saxby Cathedral School
15. Januar 2013
Ich betrachte dies als Geständnis und Entschuldigung. Ich schreibe es heimlich, während Rowan auf der Arbeit ist. » Der letzte erste Tag eines Frühlingstrimesters«, sagte er beim Frühstück. » Mein Jahr der letzten Male ist halb um.« Er meint natürlich das Schuljahr. Für ihn beginnt das Jahr nicht, wenn der neue Kalender anfängt, sondern im September, wenn die Schule sich wieder füllt. Nach fünfzig Jahren hier ist er stolzer Bestandteil der Institution. Ich werde nicht hier sein, wenn er im Juli in den Ruhestand geht. Auch für mich sind dies Tage der letzten Male. Ich habe meine letzte Weihnachtsgans gegessen, mein letztes » Auld Lang Syne« gesungen und meinen letzten Besuch in Devon gemacht.
» Genieße den Tag, Liebling«, sagte er, als er seinen Talar überzog und die einzige Krawatte geraderückte, die er je besessen hat.
Ich habe gewartet, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte und ich seine Schritte hörte, als er quer über den Hof ging. Dann habe ich mich ins Bett geschleppt, wo ich drei Stunden lang döste und von meinem einzigen noch übrigen ersten Mal träumte, von meiner ungeborenen Enkelin. Belebt von der verheißungsvollen Aussicht auf sie bin ich aufgewacht. Ich werde sie sehen. Ich werde sie im Arm halten.
Gegen Mittag bin ich aufgestanden, habe ein bisschen Suppe heruntergewürgt und dann weitergeschrieben. Ich habe inzwischen Mühe, den Stift zu halten. Meine Handschrift ist zu dem zittrigen Gekritzel einer alten Dame geworden, und die wackligen Buchstaben lassen ein Alter vermuten, das die Schreiberin gar nicht mehr erreichen wird.
Dieses Tagebuch sieht genauso aus wie die paar Dutzend Bände, die ihm vorausgegangen sind und in denen ich alles von meiner Heirat bis zu meinem Eintritt ins Richterinnenamt aufgezeichnet habe. Ich habe über alles geschrieben, was mir je wichtig war. Über alles mit Ausnahme der Sache . Es ist ein so schönes Buch, und es ist schade, dass ich es nach dem Schreiben werde vernichten müssen.
Ich bin gezwungen zu schreiben, dem Risiko der Entdeckung zum Trotz. Ich kann nicht sagen, warum. Ich weiß nur, dass dieser Zwang seit meiner Diagnose bei mir ist und täglich an Kraft gewinnt – Vergleiche mit dem Tumor sind von grimmiger Unausweichlichkeit. Bevor ich geschrieben habe, kann ich nicht wissen, ob ich den Worten Zeit geben werde, auf dem Papier zu atmen, oder ob ich das Papier aus der Bindung reiße, bevor die Tinte trocknen kann. Aber ich weiß, dass andere Augen als die meinen das alles niemals lesen dürfen. Ich werde dafür sorgen, dass es nicht geschieht.
Es ist merkwürdig, aber in gewisser Weise wäre es mir lieber, mein Geständnis würde öffentlich gemacht, als dass es von meiner Familie gelesen wird. Unser Ansehen würde leiden, meine Karriere bei Gericht würde noch im Rückblick unterminiert und Rowans Beziehung zur Schule ebenfalls. Aber darüber hinaus – nichts. Damit meine ich: keine Verurteilung. Das Gesetz, gegen das ich verstoßen habe, ist ein relativ geringfügiges, und ohnedies läuft das Ganze auf den glitschigen Fisch namens Absicht hinaus. Solange die Justiz nicht lernt, Gedanken zu lesen, werde ich nicht bestraft.
Das Urteil der Öffentlichkeit ist nichts im Vergleich mit dem, was Rowan und die Kinder von mir halten würden, wenn sie meinen Bericht lesen dürften. Das Ansehen ist eine Sache, die Familie eine ganz andere. Die Familie ist wichtig. Es würde sie vernichten, jeden Einzelnen aus einem anderen Grund. Nicht meine Eitelkeit, sondern die Liebe zu ihnen veranlasst mich, ihr Bild von mir als anständiger und wahrheitsliebender Frau zu erhalten.
Natürlich war es die Liebe zu meinen Kindern, die Liebe zu meinem Sohn, die mich handeln ließ – die mich tun ließ, wie ich es getan habe. Ein Mangel an Urteilskraft. Hätte ich geahnt, was für schreckliche Konsequenzen meine Entscheidung haben würde, hätte ich anders gehandelt. Aber als ich die Folgen erkannte, war es zu spät.
In meinen Jahren als Richterin habe ich sämtliche Ausreden gehört. Keine davon kann ich in Anspruch nehmen. Ich war nicht jung, ich war nicht arm, ich war nicht ungebildet. Die Mutterschaft war meine einzige Ausrede. Ich habe versucht, das Richtige für meinen Sohn zu tun, und das hat mich vorübergehend blind für die inneren Gesetze gemacht, nach denen zu leben ich immer bemüht war. Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder, aber ich habe die Grenze zwischen schützendem und
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