Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
die Luft am Morgen noch zu diesig für einen klaren Blick, dachte er.
Zwischen den Bäumen ragten Mauerreste in den Steilhang hinein. Lorenz erinnerte sich, dass sie als Kinder bäuchlings über das in der Breite nur einen Backstein messende Bauwerk gerobbt waren, bis man am Ende nur noch Luft unter der Nase hatte und erschauernd in die Tiefe blickte. Mit ungläubigem Staunen betrachtete er die Mauer, die direkt bis zum Felssturz reichte und alles andere als stabil wirkte. Vielleicht waren die Steine damals noch fester gefügt oder er und die anderen Jungs waren einfach verrückt und unvorsichtig genug gewesen.
Lorenz ließ seinen Blick weiterschweifen, über die abschüssige Mauer hinweg auf die andere Seite des Taleinschnitts, wo bei Rath die Felsen von Kickley und Christinenley den Höhenzug säumten.
Das helle Klimpern von metallenen Karabinern und laute Rufe zeigten Lorenz an, dass Kletterer in der senkrechten Wand des Burgfelsens unterwegs waren. Es kam ihm der Gedanke, ob das Klettern in diesem Bereich überhaupt erlaubt war. Dann schüttelte er über sich selbst den Kopf und schalt sich einen alten verknöcherten Beamten. Vielleicht war viel wichtiger als die Genehmigung, dass sich die jungen Leute da unten zutrauten, diesen Felsen erklettern zu können. Lorenz hatte dies nie versucht. Seit seiner Kindheit hatte er immer wieder Menschen beobachtet, die ihre Geschicklichkeit und Kraft an dem schwierigen Eifeler Sandstein erprobten. Auch sein Pfleger Benny tat dies regelmäßig. Er fragte sich, warum er niemals ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, es selbst einmal zu versuchen. Plötzlich war ein Bild vor seinem inneren Auge, so klar und deutlich, als wäre er fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit geworfen worden. Maria, noch sehr jung, vor einer Gruppe verwegen aussehender Männer, die sich mit Seil, Haken und Karabinern bewaffnet an die Ersteigung eines Felsenturmes machten. Das war im Effels gewesen, gar nicht weit vom Burgfelsen entfernt. Maria hatte gemeint, das wäre genau das Richtige für sie, man müsste es zumindest einmal ausprobieren. Lorenz hatte gelacht und sie nicht ernst genommen. Sie waren dann weitergegangen. Noch lange konnte man beim Spazierengehen das Klingen der an Fels schlagenden Karabiner hören. Über das Klettern hatten sie nie wieder gesprochen, soweit er sich erinnern konnte.
Lorenz folgte dem Weg, der sich an den Felsköpfen entlangschlängelte. Auch jetzt verfolgten ihn die Geräusche der Kletterer weiter. Plötzlich war Bärbel in seinem Kopf. Bärbel, die lebensfrohe, beinahe jugendlich wirkende Künstlerin. Bärbel, die hochgebildete Professorin. Bis heute war es ihm noch nie aufgefallen, dass sie trotz der völlig unterschiedlichen Lebenswege seiner Maria doch sehr ähnlich war. Beide waren auf ihre Art bescheiden, lebten scheinbar in ganz ähnlichem Milieu wie Lorenz selbst und waren dennoch viel wagemutiger und experimentierfreudiger als er. Daran konnten auch Kommissar Wollbrand und seine kriminellen Abenteuer der letzten Zeit nichts ändern. Er konnte sich heute seine Maria gut vorstellen bei dem Versuch, mit Seil und Haken in eine Felswand einzusteigen. So wie Bärbel einfach eine Rumba aufs Parkett legte, ohne daran zu denken, was die anderen tun oder sagen. Und er hätte mit ihr tanzen können, wenn er es nur gewollt hätte. Stattdessen hatte er Gustav das Feld überlassen. Gustav Brenner, der Geheimnisvolle. Gustavo, der feurige Tänzer. Gustav, der gebildete, weit gereiste, welterfahrene und undurchsichtige Freund. Sicher war er ein passenderer Partner für Bärbel als er, Lorenz, der pensionierte Beamte, der selten aus seiner Heimat herausgekommen war und nichts zu bieten hatte außer einigen Kenntnissen der Heimatgeschichte und einem Hang zur Kriminalistik. Der alt gewordene Lorenz, der nie mit Maria das Klettern versucht hatte. Vermutlich, und darüber hatte er noch nie ernsthaft nachgedacht, war es ein unverdientes Glück gewesen, dass Maria ihn geheiratet hatte und zweiundfünfzig Jahre bei ihm blieb, bis alle ihre Lebenskraft aufgebraucht war und der Krebs sie ihm weggenommen hatte.
Lorenz beschleunigte seinen Schritt. Zu der nach Westen gewandten Seite des Burgbergs reichten die wohltuenden Strahlen der Sonne zu dieser Tageszeit nicht. Die Luft war im Schatten immer noch recht kühl. So versuchte er sich durch schnelleres Gehen zu erwärmen. Vor ihm glänzte silbrig das Gipfelkreuz des Hager Turms.
»Rumba!« Lorenz schnaufte verächtlich und
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