ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
langsam aus seiner Umarmung und sah ihm in die Augen, noch nicht in der Lage etwas zu sagen. Sein Blick war sanft, fast verletzlich. So hatte ich Radu noch nicht oft gesehen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da fand er seine Fassung wieder. Sein Gesicht war zwar immer noch entspannt, aber seine Augen verrieten nicht mehr sofort, wie besorgt er die letzten Stunden war. Es war Radus Pokerface. Der Blick, der alles und nichts bedeuten konnte.
„Ja, es geht mir gut.“ Meine Beine fühlten sich weich und kraftlos an und ich war froh, dass Radu mich immer noch an den Schultern festhielt. „Und dir auch.“ Die Erleichterung darüber klang bei jedem einzelnen Wort mit.
„Ich hatte solche Angst, dir wäre etwas passiert und du-“
„Nein.“ Ich unterbrach ihn, denn ich wusste genau, er wollte es nicht aussprechen müssen und ich wollte es nicht hören. Es fiel mir jetzt noch immer schwer genug zu begreifen, dass ich tatsächlich noch am Leben war. Ich wollte ihm sagen, wer mich gerettet hatte, überlegte es mir aber sofort wieder anders. Mein Blick wanderte kurz durch den Raum und die Enttäuschung überkam mich wie eine Welle, als ich Aljoscha nirgendwo sah. Natürlich nicht. Er hatte hier einen ganz anderen Status. Er würde wohl kaum mit den Flüchtlingen in einem Raum sitzen. Vermutlich war Anna gerade bei ihm. Er war der Grund, aus dem sie so plötzlich verschwunden war. Es hätte mir klar sein sollen. Natürlich. Ich versuchte meine Enttäuschung zu verstecken und sah zu Gry. Sie wirkte erschöpft, aber unverletzt. Auch sie stand vor einem Stuhl und strich sich nervös über die Oberarme. Ich löste mich aus Radus Griff und drehte mich zu ihr. Bevor ich etwas sagen konnte, fing sie zu reden an.
„Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“ Sie lächelte sanft und die dunklen Ringe unter ihren Augen stachen mit einem Mal noch mehr hervor. Sie gruben sich wie ein Fremdkörper in ihre blasse, makellose Haut. „Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Um euch beide.“ Sie sah auch zu Veit rüber, der immer noch unmittelbar vor der Tür stand, mit den Händen in den Hosentaschen.
„Wir waren auch besorgt. Was ist passiert? Wer hat euch gerettet?“ Ich ging einfach davon aus, man hatte auch sie gerettet. Der Gedanke, Radu und Gry hatten sich alleine bis nach Russland durchgekämpft, verursachte einen harten Knoten in meinem Magen. Aber, nein. Das konnte nicht sein. So viele Tage waren noch nicht vergangen und sie waren beide in zu guter Verfassung, um gerade erst hier angekommen zu sein.
„Es war Aljoscha.“ Radu sagte seinen Namen in einem tiefen Ton. Seine Stimme war fast nur noch ein Knurren. Das war klar. Die Spannung zwischen den beiden war von der ersten Sekunde an zu spüren gewesen. Zumindest von Radus Seite aus.
„Radu und ich haben uns relativ schnell am Flussufer wiedergefunden. Wir waren einen guten Tag unterwegs, als wir das Grenzgebiet erreichten und...“ Gry stockte. Ihre Augen wurden glasig und ihr fehlte die Kraft zu sprechen.
„Wir haben die Dronen gesehen und sie uns wohl auch. Es war, als wäre im Bruchteil einer Sekunde die Hölle über uns hereingebrochen. …Feuer überall. Ich weiß jetzt gar nicht mehr so genau, wie wir überhaupt entkommen konnten. Dann kam er mit einem Trupp von Soldaten.“ Radu machte eine Pause und schluckte schwer. Ich sah wieder zu Gry, die sich erst mit den Händen über die Stirn und dann durchs Haar strich. Ihre Augen waren fest geschlossen, als würde sie mit aller Kraft versuchen, das Gesehene aus ihren Gedanken zu verbannen. Schuldgefühle überkamen mich. Es ging ihnen nicht besser als mir. Vermutlich ging es ihnen schlechter. Ich hatte mir eingebildet, dass ich die schlimmsten Dinge gesehen und erlebt hatte aber das war nicht wahr. Ich war es, die Glück hatte. Aljoscha war da und hatte seine schützenden Hände über mich gehalten. Die Gewissensbisse wurden noch schlimmer. Ich war es, die gefleht und gebettelt hatte, nach den anderen zu suchen und er war tatsächlich noch einmal losgegangen und hatte es getan. Mir wurde ganz schlecht.
„Es war... schwer, aber sie haben uns da rausgeholt.“ Radus Stimme war kraftvoll doch sein Blick zeigte Zerschlagenheit. Es war genau der Blick, den er bekam, wenn er das Gefühl hatte nicht genügt zu haben. Versagt zu haben. Seine Qualen waren
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