Altern Wie Ein Gentleman
tatendurstig in den Ruhestand. Wir wollen teilhaben. Aus der großen Anzahl medizinischer Ursachen für diese Entwicklung sind drei von besonderer Bedeutung: die Kardiologie, die Entwicklung von Insulin und die von Antibiotika. Damit ist das Alter nicht abgeschafft, sondern es kommt später, und viele werden einen hohen Preis für die neue Lebensphase bezahlen müssen. Der medizinische Fortschritt, der uns fünfzehn Jahre geschenkt hat, zieht häufig eine lange Leidenszeit nach sich. Krankheiten wie Demenz und Knochenschwäche, die bislang nur sporadisch auftraten, werden in Zukunft zum Regelfall werden, mit den damit verbundenen Kosten. Etwa siebzig Prozent derjenigen, die das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht haben, werden irgendwann in ihrem Leben intensive Pflege benötigen, zwanzig Prozent von ihnen fünf Jahre oder länger.
Wir setzen eine Zeit lang die betrübliche Einsicht Schopenhauers außer Kraft: »Jedes Heute ist ärmer als das Gestern, ohne Hoffnung auf Stillstand.« Meine Generation lässt ein gutes Jahrzehnt stillstehen, währenddessen die Zeit zunächst spurlos verrinnt. Wir verweigern uns jenen Ansinnen, die einst mit dem Eintritt ins Alter eng verbunden waren: Abschied, Rückzug, Verzicht und Schicksalsergebenheit. Unser Orchester spielt die Weisen von Aufbruch, Abenteuer, Sinnsuche und schöpferischer Tätigkeit.
Die wirtschaftlich folgenreichste Entscheidung meiner Generation ist die der niedrigen Geburtenrate. Wir verlieren in jeder Generation ein Drittel des Nachwuchses, der notwendig wäre, den Generationenvertrag zur Rente mit Leben zu erfüllen. Ohne hinreichenden Nachwuchs erlischt zwar nicht das Recht auf Rente, aber wir haben keine materielle Basis geschaffen, von der wir sie einfordern könnten – es sei denn, unsere Kinder und Enkel sind bereit, höhere Sozialbeiträge zu zahlen, oder schauen untätig zu, wie die Staatsverschuldung weiter steigt.
Die häufig vorgeschlagene Umstellung vom umlagefinanzierten auf ein kapitalgedecktes Rentensystem wäre politische Schwerstarbeit und würde die Probleme auch nicht lösen können, denn wenn ein Rentner als Couponschneider von den Zinserträgen seiner Staatspapiere leben will, wird sein Enkel die Steuern zahlen müssen, um die Zinsen aufzubringen. Hat er sein Geld in Aktien angelegt und verzehrt die Rendite, werden die Enkel die dafür notwendigen Profite der Unternehmen erwirtschaften müssen. Bringt er die Aktien auf den Markt, um vom Erlös zu leben, werden seine Enkel diese aufkaufen müssen. Es läuft immer auf das Gleiche hinaus: Man kann die Geldströme zwar umleiten und durch neue Kanäle führen, die Zeche zahlen am Ende zum Großteil stets die Nachkommen. Solange in genügender Zahl Kinder geboren wurden, funktionierte dieses System. Jetzt sind wir jedoch zügig dabei, es außer Kraft zu setzen, ohne zu wissen, was an seine Stelle treten soll.
Die Gründe für den Verzicht auf Kinder sind vielfältig und eng miteinander verwoben. Die Antibabypille hat eine gewichtige Rolle gespielt. Durch sie wurde die Libido von der Fortpflanzung befreit und die Paarung zu einem Genussmittel neben anderen. Zusätzlich geriet der bewährte bürgerliche Dreischritt – Ausbildung, Beruf, Familie – aus den Fugen. Er vertrug sich nur schlecht mit dem Wunsch nach Ungebundenheit und Selbstbestimmung, die meine Generation zu ihrer unverzichtbaren, allgegenwärtigen Lebensgrundlage gemacht hatten. Damit waren die Pflichten und Verbindlichkeiten, die Einschränkungen und die Opfer, die eine Familie notwendig mit sich bringt, kaum vereinbar. Und schließlich hatte die Emanzipation zwar die Frauen von repressiven Rollenvorschriften befreit, aber nicht gewagt, die Männer zum Ausgleich in die Pflicht zu nehmen. Vor die Wahl zwischen Familie oder Freiheit gestellt, entschied sich die Hälfte meiner Generation für Letzteres. Unser Verzicht ist Teil des großen Themas der Moderne: das der Emanzipation von der Natur. Was die davon hält, wird die Zukunft zeigen. Der Verzicht auf Kinder bedeutet zudem den Verlust eines sozialen Bindemittels, das in früheren Zeiten auch Ehen in rauem Fahrwasser Dauer verlieh. Folglich sinkt die Zahl der Eheschließungen, die der Scheidungen steigt.
»Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Diese hübsche Pointe von Mark Twain gilt nicht länger für Voraussagen zur Bevölkerungsentwicklung, die zu einer sehr genauen, zuverlässigen Disziplin geworden sind. Den Wissenschaftlern zufolge
Weitere Kostenlose Bücher