Altern Wie Ein Gentleman
verborgene Motive und psychischen Defekt. Wer nicht weiterwusste im täglichen Kleinkrieg um Treue, Ordnung und das Fernsehprogramm, der warf dem Gegner Verdrängung vor und konnte im Handumdrehen schönen Vorteil erlangen. Die Gefahr dieser Strategie lag in der Radikalisierung der Streitigkeiten, denn wer vorhat, in die Psyche des anderen einzudringen, riskiert eine schwer kontrollierbare Ausweitung der Kampfzone.
Ich erinnere mich sehr genau an solche abendlichen Gespräche in einer kleinen Wohnküche hoch über dem Neckar. Sie gehörte zu einer Vierzimmerwohnung, in der ich als Student mit meiner Freundin und zwei weiteren Kommilitonen lebte. Die Konfliktlage ist banal und schnell erzählt. Meine damalige Freundin hatte ein untrügliches Gespür für die wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens. Zu den wichtigen zählten die Weltrevolution, der Kampf für die Abtreibung und sorgfältiges Make-up, zu den unwichtigen der Abwasch und das Schließen der Zahnpastatube nach deren Gebrauch. Häufig war ich morgens nach dem Aufstehen einige Zeit damit beschäftigt, die steinharte Paste mit einem spitzen Gegenstand beiseitezuräumen, um an den geschmeidigen Inhalt heranzukommen.
»Heute Morgen hab ich wieder ewig versucht, die verstopfte Zahnpastatube klarzukriegen«, beklagte ich mich. »Mach sie doch nach Gebrauch wieder zu. Bei der Zeit, die du im Bad verbringst, müsste dieser kleine Handgriff eigentlich drin sein« – was eine geschickte Mischung aus Ironie, Forderung und Vorwurf war.
»Ewig? Du übertreibst.«
»Du weißt genau, was ich meine.«
»Weiß ich nicht. Und was soll diese Bemerkung zu meiner Zeit im Badezimmer?«
»Darum geht’s doch nicht!«
»Doch, genau darum geht es!«
»Um was?«
»Um deinen Ordnungsfimmel. Es wäre klüger, darüber nachzudenken, warum dich eine offene Zahnpastatube so aufregt.«
»Ich bin nicht aufgeregt!«
»Bist du doch!«
Und schon waren wir mitten in einer prächtigen Diskussion über den Zusammenhang zwischen versteinerter Schlämmkreide und verdrängten Erziehungsdefiziten meinerseits.
Seit Kurzem jedoch habe ich – theoretisch wie praktisch – Gefallen an der Verdrängung gefunden. Allerdings drohte die ständige Beschäftigung mit dem Thema dieses Buches deren Potenzial in mir außer Kraft zu setzen. Natürlich bemerke ich wie alle anderen auch, dass Körper und Sinne nach und nach schwächer werden. Hinzu kamen die Lektüre zum Thema, zahlreiche Gespräche mit alten Menschen, mein Aufenthalt im »Rosengarten« und schließlich das ständige Nachdenken darüber, wie die gewonnenen Einsichten in Form gebracht werden könnten.
Nicht lange, und das Thema hatte bei mir jeglichen Verdrängungsmechanismus außer Kraft gesetzt und mich fest im Griff. Ich begann mich ängstlich zu beobachten und entdeckte folgerichtig ständig neue Anzeichen des Verfalls. Die Zukunft lag plötzlich drohend vor mir, jederzeit bereit, mir einen schlimmen Streich zu spielen. Und ganz an ihrem Ende lauerte die Hoffnungslosigkeit. Befürchtungen und Ahnungen hatten von mir Besitz ergriffen. Mir wurde mulmig, wenn ich an den nächsten Tag dachte, und das tat ich ständig.
In meiner Not begann ich unablässig, mit drohendem Unterton über das Altern zu reden, in der vagen Hoffnung, dass die Redseligkeit mich entlasten würde. Das interessierte die Jungen nicht und störte die Verdrängung der Gleichaltrigen. Nach kurzer Zeit hieß es, ich hätte »echt Probleme mit dem Altern«. Was mir erst recht peinlich war.
Ein Freund, den ich einmal die Woche in einer kleinen Berliner Hinterstube zu scharf gewürzten Nudelgerichten und kleinen, beruhigenden Gläsern Rotwein treffe, beschwerte sich eines Tages über meine eintönige Themenwahl: »Mich nervt, dass wir seit Wochen ständig über das Alter reden. Ich weiß, dass ich alt werde. Ich weiß auch, was mir blühen kann. Da hilft mir aber kein Gerede. Was ist nur in dich gefahren?«
»Das entlastet mich.«
»Aber es belastet mich, sei bitte still!«
Ich drohte offensichtlich seine Verdrängungsmuster zu beschädigen, und er war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Seither reden wir wieder über das Damals und wie großartig es ehedem gewesen war, über Golf und den trostlosen Zustand der Gegenwart, die nun ohne uns auskommen muss: die heilige Themendreifaltigkeit alter Leute.
Dass ich dieses Buch überhaupt beendet habe, verdanke ich der Furcht, für den Rest meiner Jahre mit der Vorstellung leben zu müssen, bei diesem Projekt
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