Altern Wie Ein Gentleman
deutsche Reich als Großmacht in Zentraleuropa und darüber hinaus zu etablieren. Unseren Eltern erwuchs daraus die Verpflichtung, die zerstörte Heimat wieder aufzubauen. Darüber war jahrzehntelang die kulturelle Modernisierung der Gesellschaft vernachlässigt worden. Dies nachzuholen war unser Thema, das zu einem großen Teil aus der Ablehnung dessen bestand, was wir, bei guter materieller Ausstattung, an Gesetzen und Vorschriften, Werten und Normen vorgefunden hatten.
Unser Thema, das der »Vierziger«, war nicht die »Freiheit«, wie wir heute noch gerne behaupten, denn in der lebten wir bereits. Wir kümmerten uns lediglich um die Beseitigung unpraktischer Bevormundung und waren in dieser Funktion ein kollektives Entrümpelungsunternehmen. Bei diesen Aufräumarbeiten ging allerdings auch der Tugendkatalog unserer Eltern zum Teil verloren, in dem Disziplin, Treue, Fleiß, Pflichterfüllung und Bescheidenheit untergebracht gewesen waren. Wohin die führen konnten, war durch die jüngste deutsche Geschichte eindrucksvoll demonstriert worden, so unsere feste Überzeugung. Also haben wir die überholten und altväterischen Verpflichtungen, die arg hinderlich sein können beim Vollzug einer befreiten Existenz, durch Hedonismus und Libido ersetzt, dabei aber übersehen, dass beide Prinzipien im Alter nichts mehr taugen. Der oberflächliche Befund unserer Biografien bezeugt jedoch: Es hat sich bislang gelohnt! Wir haben flott gelebt, wenig ausgelassen, und vom Faschismus ist bis auf dumpfe Restposten auch nichts mehr zu sehen.
Aus der Rechnung für unseren Lebensstil, die unseren Kindern und Enkeln in naher Zukunft präsentiert werden wird, ergibt sich unschwer deren großes Thema: Schadensbegrenzung. Wo die nicht mehr gelingt, übernimmt die Natur die Herrschaft, und die kann rücksichtslos sein, wie sie verschiedentlich angedeutet hat. Aber das wird dann nicht mehr unsere Welt sein.
In jener Zeit, als wir in wasserdichten Regenjacken und auf flinken Turnschuhen durch die Straßen der Republik trabten, um aufzuräumen, entstand aus dem Geist der Kritik an allem unsere vorherrschende Charaktereigenschaft, die der Negation.
»Ihr seid komische Leute«, wunderte sich mein amerikanischer Kameramann in New York, als wir Ende der achtziger Jahre anlässlich der UN -Herbsttagung für einige Tage mit Teams aus Deutschland zusammenarbeiteten, »ihr beklagt euch ständig. Wenn ich mit den deutschen Kollegen abends an der Bar stehe, geht nach wenigen Augenblicken die Jammerei los. Euer Sender scheint eine Ansammlung unfähiger Idioten zu sein, die ständig falsche Entscheidungen treffen. Was immer wir hier planen, wird kritisiert und abgelehnt. Und eure Erzählungen über den Flug hören sich an, als wärt ihr auf einem Sklavenschiff über den Ozean gebracht worden.«
Für amerikanische Ohren klingt das larmoyante Dauergeräusch meiner Generation fremd und ständig fehl am Platz. In den USA vertraut man seine Sorgen und Bedenken nur wenigen ausgewählten Freunden an, im täglichen Umgang bemüht man sich dagegen um gute Laune. Das macht das Leben für alle unkomplizierter und angenehmer.
Literarischer Ausdruck unserer Einstellung gegenüber dem Leben ist jene Erkenntnis Adornos, die sich zu meiner Studienzeit großer Beliebtheit erfreute: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Wobei das »falsche« jene Welt war, in der wir zu Hause waren. So wurde es zumindest von vielen verstanden. Wir hielten diesen Unfug damals für einen empirischen Satz, der uns das große Geheimnis der Gesellschaft enträtseln würde. Seither haben wir den Weltuntergang in seinen verschiedensten Formen, mit Ausnahme vielleicht eines Meteoriteneinschlags, fest im Blick – eine Zukunft, nebenbei, in die wir ohne Zögern, Bedauern oder Gegenwehr unsere Kinder schicken.
Meine Generation ist noch nicht lebenssatt, wie einst die Vorfahren im selben Alter. Im Gegenteil: Sie ist lebenshungrig, voller Ansprüche, Hoffnungen und Pläne. Das ist zum einen unserem körperlichen Wohlbefinden als Folge der Entlastung von schwerer Arbeit, zum anderen der Beschleunigung des technischenFortschritts geschuldet. Wer in einer traditionellen Gesellschaft, in der der Erfindergeist noch stillgelegt war, sechs Jahrzehnte durchmessen hatte, der hatte alles erfahren, gesehen und erlebt, was die Gesellschaft für ihn bereithielt. Er konnte beruhigt gehen, denn er würde nichts mehr versäumen. Es blieben keine Rätsel übrig, die er noch lösen wollte. Und das
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