Altern Wie Ein Gentleman
Im Alter jedoch regt es sich, tritt in den Vordergrund und beginnt eine gewichtige Rolle zu spielen. Aus dem schlichten Adverb wird ein Grenzpfahl, der uns ständig in die Schranken weist und das Terrain unserer Beweglichkeit einengt.
Erfolgreich Altern heißt vor allem Grenzen erkennen, ein Prozess, der sich bis in die letzten Stunden hinziehen kann. Das »noch«, dem wir bislang selten Aufmerksamkeit geschenkt hatten, wird uns dabei zur strengen Richtschnur. Während ein junger Mensch angesichts einer schwierigen Herausforderung sagen würde: »Das schaffe ich nicht«, sagt der Alte: »Ich glaube nicht, dass ich das noch schaffe.« Im Hallenbad heißt es häufig: »Früher bin ich regelmäßig meine vierzig Bahnen geschwommen, heute schaffe ich noch zwanzig.« Unausgesprochen weist jedes »noch« den Alten auf einen Verlust im Vergleich zu früher hin. Das bitterste »noch« kommt allerdings vom Arzt, wenn er sagt: »Sie haben noch vier Monate zu leben.«
Hinter dem »noch« lauert häufig eine weitere semantische Gefahr und gleichzeitig sein enger Verbündeter: das »mehr«. »Langlauf geht noch, Abfahrt nicht mehr« oder: »Walking geht noch, Jogging nicht mehr.« Diese beiden kurzen, klanglich unschönen Wörter weisen bei jedem Gebrauch auf jene Zeit zurück, als Kraft, Verstand und Sinne unauffällig ihren Dienst taten. Dieser reibungslose Ablauf ist störanfällig geworden, so dass alte Maßzahlen ständig nach unten angeglichen werden, bis die Latte schließlich auf dem Boden liegt und überhaupt keine Anstrengung mehr von uns erwartet wird: »Ich gehe täglich vor die Tür, aber einkaufen kann ich nicht mehr.« – »Ich schau mir Fußball im Fernsehen an, denn ins Stadion schaffe ich es nicht mehr.«
Eine besondere Sprengkraft kann die unauffällige Bemerkung: »Das lohnt nicht mehr« entwickeln. Damit schert der Alte aus der Kolonne aus, lässt sich am Wegesrand nieder und schaut seinen Kameraden hinterher, bis sie gemächlichen Schritts um die nächste Biegung verschwunden sind, während er allein und sich selbst überlassen zurückbleibt.
Gemeinsam beschreiben »noch« und »mehr« also eine eigentümlich zweideutige Gemengelage. Die Maßstäbe der Vergangenheit sind zwar noch gegenwärtig, aber die Trauben hängen neuerdings zu hoch. Jeder Gebrauch der unheimlichen Zwillinge misst die Distanz zwischen einstigem und aktuellem Leistungsvermögen und notiert den Verlust, den man erlitten hat. Sie sind ein ständiger Stachel im welken Fleisch.
Man sollte darum die ärgerliche Begleitung aus seinem Sprachgebrauch verbannen. Das wird die Realität zwar kaum beeindrucken, aber es stärkt das Selbstbewusstsein. »Ich schwimme täglich zwanzig Bahnen« klingt sehr viel selbstbewusster und souveräner als dieselbe Behauptung mit dem fatalen Zusatz.
Begriffe und deren Bedeutung sind wesentliche Leitplanken des Lebens, vorausgesetzt, sie sind realitätstauglich. Die Realität wiederum entsteht in steter Auseinandersetzung zwischen uns und der Umgebung. Wir werden also unsere Vorstellung von Begriffen wie »Gesundheit«, »Ende«, »Zeit«, »Zukunft« und »Lebensperspektive« überdenken und für uns neu bestimmen müssen. Andere, wie »Karriere«, »Aufstieg«, »Konkurrenzkampf«, »Erfolg«, »Ansehen« oder »Einfluss« können wir entsorgen und aus unserem Wortschatz tilgen. Sie werden keine Rolle mehr spielen. Dafür gewinnen wir bislang ungebräuchliche Wörter hinzu: »Vergänglichkeit«, »Leid«, »Verlust« und »Abschied«.
Wenn Jüngere beispielsweise vom »Ende« sprechen, meinen sie alles Mögliche, nur nicht das »Lebensende«, das die Alten notwendig mit dem Begriff in Verbindung bringen. »Gesundheit« ist für junge Menschen die Abwesenheit jeglicher Beschwerden, für den Alten die Abwesenheit schweren Leidens. Für einen Berufstätigen besteht die »Zukunft« aus Karriere, Familienplanung und Kindererziehung. Dem Rentner ist sie ein Zeitraum ohne feste Vorgaben.
Im Alter werden also vertraute Wortbedeutungen den Bezug zu unserer Wirklichkeit verlieren, und wir tun gut daran, sie rechtzeitig an unser neues Leben anzupassen. Andernfalls droht der Zufall, die Signatur der Sinnlosigkeit, die Regie über unser Leben zu übernehmen.
Es wird jedoch nicht damit getan sein, die Sprache zu verändern. Die Sache selbst muss auf den Prüfstand. Jene Verhaltensweisen, die einst Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere waren, wie Ehrgeiz, Rücksichtslosigkeit, Gefühlskälte, Opportunismus
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