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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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lässliche Sünde, die uns manch angenehme Träumerei ermöglicht, und hängen den Spiegel vorläufig beiseite, wohl wissend, dass in seinen Tiefen das Alter lauert. Und wenn wir uns im Vorbeigehen trotzdem flüchtig in Schaufensterscheiben betrachten, sind wir immer noch in der Lage, den Menschen zu erblicken, der wir sein wollen. Das hat die erfreuliche Begleiterscheinung, dass wir uns sehr viel positiver einschätzen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
    Eine optimistische Selbsteinschätzung wiederum hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit. Amerikanischen Studien zufolge steigert ein positives Selbstbild die Lebenserwartung um etwa sieben Jahre und ist damit allen anderen gesundheitsfördernden Maßnahmen überlegen. Im Rahmen einer weiteren Studie wurden Senioren über einige Jahre hinweg regelmäßig auf ihre Gesundheit hin untersucht. Die optimistischen Kandidaten unter ihnen hatten ein deutlich geringeres Risiko, gebrechlich zu werden. Menschen, die Freude am Leben haben, sind aktiver, neugieriger und beweglicher. Sie verfügen damit über jenes Bündel an Einstellungen, die Voraussetzung sind für ein längeres Leben.
    Als die Bewohner entwickelter Industrienationen sind wir indes nicht nur äußerlich jünger als unsere Vorfahren, wir sind auch die erste Generation seit Menschengedenken, die ohne kollektives Leid aufgewachsen ist. Wir kennen Verlust, Ausweglosigkeit, Lebensgefahr und den Ernstfall nur in seltener Ausnahme. Im Alter wird Leid jedoch auf Dauer gestellt, und wir werden begreifen müssen, dass wir schlecht gerüstet sind für diese Herausforderung.
    Mag sein, dass es zu spät geworden ist für uns und dass wir schutzlos in das Jahrzehnt der Hochbetagten gehen. Es ist noch nicht entschieden, ob der medizinische Fortschritt uns die letzten Jahre leichter oder beschwerlicher machen wird. Wir erreichen festen Schritts unseren Nachsommer und können der zähen und erbarmungslosen Arbeit des Todes an unseren Körpern noch lange Widerstand leisten. Das kann das Sterben qualvoll machen, im Gegensatz zu unseren Vorfahren, die zart und gebrechlich wurden und dann oft leicht gegangen sind.
    Dem Leid gesellt sich mit zunehmendem Alter das Schicksal als unerbittlicher Begleiter zur Seite. Dessen Neutralisierung war ebenfalls ein Projekt der Moderne. Unsere Eltern haben Schicksal noch im Übermaß ertragen müssen, wir hingegen haben es, von Ausnahmen abgesehen, zeit unseres Lebens stillgelegt. Wir waren überzeugt, jederzeit die Herren unserer Gegenwart und Zukunft zu sein, und hatten das Schicksal höchstens in seiner trivialen Form als Liebeskummer oder Berufsquerele auf unserer Rechnung. Jetzt meldet es sich zurück, und zwar nicht als äußeres Ereignis, sondern aus uns selbst heraus, als Rebellion unseres Körpers, gegen die wir wenig ausrichten können. Wir werden zur Ursache unseres eigenen Schicksals und dennoch von ihm beherrscht. Das ist den Generationen vor uns nicht anders ergangen, aber die waren schicksalserfahren. Wir hingegen sind schicksalsentwöhnt, und wir werden die klaglose Hinnahme dessen, was unausweichlich auf uns zukommt, erst noch erlernen müssen.
    Während Leid und Schicksal allmählich beginnen, eine bedeutsame Rolle in unserem Leben zu spielen, verschiebt sich in der Konsequenz langsam, aber stetig auch die Bedeutung bestimmter Wörter im Kontext des Alters. Wer betagt, aber »in guter Verfassung« ist, beschreibt damit vermutlich einen anderen körperlichen Zustand, als dies sein Enkel mit demselben Begriff ausdrückt. Ähnliches gilt für »rauschende Feste«, »späte Nachtruhe«, »anstrengende Fahrradetappe« oder »Computerkompetenz«. Die Begriffe gehen den Alten zwar nicht verloren, sie ändern auch selten ihre eigentliche Bedeutung, aber häufig ihre Gewichtigkeit. Andere Begriffe wie »krass«, »abgefahren«, »schrill« und »ätzend« sind vollständig im Besitz der Jugend, wir sollten die Finger von ihnen lassen. Unsere Attribute hießen einst »dufte«, »schnieke« oder »picobello« und sind zum Glück aus dem Wortschatz entsorgt worden.
    Von allen Wörtern macht die tiefgreifendste Häutung aber das zurückhaltende »noch« durch. Das bienenfleißige Adverb diente bislang unauffällig in Alltagssätzen wie: »Ein Glas trinken wir noch, dann ist Schluss« oder: »Hast du noch fünfzehnhundert Euro in der Tasche? Ich brauche neue Ohrringe.« In dieser Funktion hat es uns über viele Jahre unauffällig in einer semantischen Nischenexistenz begleitet.

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